«Ich kämpfe nicht mit der Macht», sagt Alexander Koloturski, Manager der Philharmonie in Jekaterinburg. In Deutschland würde man ihn Intendant nennen, in Russland gibt es diesen Titel nicht. Seit 30 Jahren führt der 67-jährige Koloturski die Philharmonie der 1,5-Millionen-Stadt Jekaterinburg – früher Swerdlowsk – im Ural. In dieser Zeit hat er fast im Alleingang ein kleines Imperium aufgebaut.
Mehr als 3000 Kilometer von Berlin und 1500 Kilometer von der russischen Hauptstadt Moskau entfernt präsentiert Koloturski Zahlen, von denen westliche Konzerthaus-Manager nur träumen dürfen: Die Auslastung der Philharmonie liegt bei fantastischen 95 Prozent, Tendenz steigend. In seinem Büro hängen Zertifikate von Management-Crashkursen, die er einst in den USA absolvierte. Darauf angesprochen, winkt er ironisch ab. Mit antrainiertem Management-Wissen komme man im Ural nicht weit. «Aber Geschäfte funktionieren in der ganzen Welt auf die gleiche Weise», sagt er verschmitzt.
Gute Verbindungen
Koloturski jongliert mit vielen Bällen: Er pflegt zwar gute Verbindungen mit regionalen Regierungsstellen, aber man lässt ihn auch machen. Vor allem hat er stets an der finanziellen Unabhängigkeit der Philharmonie und ihren Klangkörpern gearbeitet: Dazu gehören ein Chor aus Profisängern, ein 70-köpfiges Jugendorchester, dessen Mitglieder mit umgerechnet 400 Euro pro Monat relativ gut verdienen, und das legendäre Ural Philharmonic Orchestra. Kenner halten es für das gegenwärtig beste Orchester Russlands. Tatsächlich klingt das junge und mit hoher Frauenquote besetzte Orchester brillant und überwältigend schön.
Doch allein mit der Qualität des Orchesters ist der Boom der Philharmonie und ein Publikum mit einem hohen Anteil jugendlicher Zuhörer nicht zu erklären. «Noch vor 15, 20 Jahren war der Saal halb leer, und wir hatten fast nur ältere Zuhörer», sagt Koloturski. «Dann haben wir begonnen, diese Zielgruppe gezielt anzusprechen.» Allein 35 Mitarbeiter kümmern sich heute um pädagogische Programme. «Aber das wichtigste war und ist für uns, den Besuch der Philharmonie zu einer Prestigesache zu machen», sagt Koloturski. «Jetzt gehört es in Jekaterinburg gesellschaftlich einfach dazu, die Philharmonie zu besuchen.»
«Schwellenangst»
Für Anfänger und potenzielle Zuhörer, die noch mit der berühmten «Schwellenangst» kämpfen, veranstaltet die Philharmonie eine eigene Konzertreihe im August. Dann werden kurze, knapp einstündige Programme mit gängigen Stücken gegeben, und der Eintritt beträgt umgerechnet drei Euro. Das kann sich fast jeder leisten. «So fangen wir sie langsam ein, und irgendwann werden sie dann richtige Hörer.»
Um all das zu leisten, hat Koloturski ein riesiges Netzwerk aufgebaut: Der Freundeskreis der Philharmonie zählt sagenhafte 24 000 Mitglieder. Ein ganzer Stab von Mitarbeitern tut nichts anderes, als diese Kontakte zu pflegen und «Geld auf der Straße aufzusammeln», wie Chef-Netzwerkerin Alla Petrowa-Lematschko sagt, deren iPhone pausenlos klingelt.
Gelder
Je mehr Sponsoren Koloturski auftreibt, desto bereitwilliger geben auch die öffentlichen Stellen Gelder. Die Unterstützung nimmt Koloturski zwar gern, er hütet sich aber vor ausschließlicher Abhängigkeit von der Politik.
Im Laufe der Jahre hat Koloturski sieben Konzerthaus-Filialen in der weiteren Umgebung von Jekaterinburg aufgebaut. Seit 2005 gibt es zudem 25 virtuelle Filialen bis tief hinein in den Ural, in die Konzerte via Internet im Livestream übertragen werden. Meist sind es die örtlichen Bibliotheken, in denen sich das Publikum versammelt. 5000 Euro investiert Koloturski pro Standort in die Technologie, der Eintritt für die knapp 50 Konzertübertragungen pro Saison ist kostenlos.
Begeistert
Eine der Konzerthaus-Filialen liegt in Alapajewsk, einer Kleinstadt, drei endlos erscheinende Autostunden über schnurgerade Straßen von Jekaterinburg entfernt. Am bescheidenen Kulturzentrum, das eine Bibliothek beherbergt, blättert der Putz. Aber die örtlichen Kulturverantwortlichen, die überwiegend ehrenamtlich tätig sind, berichten begeistert von ihrer Arbeit.
Eigeninitiative lautet das Schlüsselwort auf dem Land. Ein Unternehmer hat in Alapajewsk die Kathedrale wieder aufbauen lassen, die in der Sowjetzeit als Getreidespeicher herhalten musste. Außerdem gibt es ein reich bestücktes Tschaikowski-Museum, das sich ebenfalls privater Initiative verdankt.
Freilichtmuseum
Der berühmte Komponist, Sohn eines Bergbauingenieurs, verbrachte einige Jahre seiner Kindheit in der Provinzstadt. In der stattlichen Villa kann man das großbürgerliche Mobiliar der Familie Tschaikowski besichtigen und ein mit 700 sorgfältig gepflegten Objekten bestücktes Musikinstrumentenmuseum, durch das die Leiterin in tadellosem Englisch führt und selbst die exotischsten Instrumente zu bedienen weiß.
Weitere 20 Autominuten entfernt, im Nest Nischnaja Sinjatschicha, hat derselbe Unternehmer, der in Alapajewsk die Kathedrale wieder aufgebaut hat, ein weiträumiges Freilichtmuseum errichtet. Dort sind alte Holzhäuser mit pittoresk verschnörkelten Fensterrahmen zu bestaunen, die der ehemalige Landvermesser am Ural und in Sibirien regelrecht aufgesammelt und wieder aufgebaut hat.
Sowjetzeit
Nostalgie, Stolz auf die Errungenschaften der Sowjetzeit, die wieder erstarkte orthodoxe Kirche und hochmoderne Kulturarbeit mit Technologien des 21. Jahrhunderts: Das Nebeneinander von scheinbar Unversöhnlichem irritiert das westliche Lebensgefühl.
Kaum etwas beschreibt die widersprüchliche Situation der selbstbewussten Ural-Region besser als die Philharmonie in Jekaterinburg: Das Gebäude aus den späten 1930er Jahren liegt an der Karl-Liebknecht-Straße, wenige Schritte entfernt von den vergoldeten Kuppeln der «Kathedrale auf dem Blut», die an jener Stelle errichtet wurde, wo 1918 die Familie des letzten Zaren von Bolschewiki ermordet wurde.
Neben dem Eingang der Philharmonie befindet sich auf der Loggia-Terrasse eine trendige Shisha-Bar, in der die Jugend mit ihren Laptops abhängt. Auf der anderen Seite liegt der Eingang zu Jekaterinburgs bestem Restaurant, in dem die Gutbetuchten asiatisch-italienische Crossover-Gerichte verspeisen.
Bodenschätze
Das Konzerthaus ist blitzblank saniert – von den Wandmalereien im Stil des sozialistischen Realismus bis hin zu den nagelneuen Sanitäranlagen. Die Ural-Region gehört zu den reichsten Landstrichen der Russischen Föderation. Hier werden Bodenschätze von Uran bis hin zu hochwertigen Metallen gefördert. Schwerindustrie vom Turbinenbau bis zur Panzerfabrikation, insbesondere die Atom- und Rüstungsindustrie, sorgten jedoch dafür, dass diese Region in der Zeit des Sowjetimperiums strengstens abgeschottet wurde vom Rest der Welt. Etliche Städte waren bis zum Ende der Sowjetunion 1991 «geschlossen» und damit für Besucher absolut tabu.
Aber wie geht das alles zusammen, wie erklärt sich die Gleichzeitigkeit von Nostalgie und Wandel? Alexander Koloturski sieht in der Rückbesinnung keinen Widerspruch zum Fortschritt: «Der Geschichte wenden wir uns erst jetzt zu und analysieren, was eigentlich passiert ist. Aber der Weg geht hin zu einer offenen Gesellschaft, nicht zurück. Es liegt in unserer Hand.»
Und dass so wenig aus dem Ural in den Westen dringt, wird sich bald ändern: Am 20. September gastiert das wunderbare Ural Philharmonic Orchestra aus Jekaterinburg erstmals in Deutschland beim Bonner Beethovenfest.
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