EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ist in diesen spannungsgeladenen politischen Zeiten so etwas wie der Blitzableiter aller Unzufriedenen geworden. Von allen Seiten wird auf den Luxemburger eingeprügelt, ob er nun etwas sagt oder einfach nur den Mund hält. Es findet sich immer ein Grund, um ihm die Schuld in die Schuhe zu schieben. Egal, was er tut oder sagt, er findet sich stets mit Fragen der Art „Qu’est-ce qu’elle a ma soeur?“ konfrontiert. Auf die man ja bekanntlich in jedem Fall die falsche Antwort gibt. Doch so lustig das auch klingen mag, der Kontext ist doch ein viel ernster, da sich der Eindruck erhärtet, als würde der politische Diskurs zunehmend von sachlichen Argumenten entleert, an deren Stelle alles Mögliche zwischen Rechthaberei und emotionsgeladenem Wunschdenken tritt.
Noch bevor der EU-Kommissionspräsident eine Welle der Entrüstung hinsichtlich der Ratifizierung des europäisch-kanadischen Freihandelsabkommens CETA auslöste, wurde Jean-Claude Juncker vorgeworfen, eine Mitschuld an der Brexit-Entscheidung zu tragen. Da er sich nicht ausreichend für den Verbleib des Vereinigten Königreichs bei den Untertanen Ihrer Majestät eingesetzt habe. Vermutlich aber hätten es ihm die Nigel Farages, Boris Johnsons und andere Brexiteers gedankt, wenn er nur einen Fuß auf die Insel gesetzt hätte, um sich dort für die europäische Sache starkzumachen. Juncker jedoch befolgte wohlweislich den Wunsch der britischen Regierung, sich nicht einmal mit Worten in die Referendumskampagne einzumischen. So wie es fast die Gesamtheit der politischen Klasse in Europa getan hat – weshalb sich die Briten jetzt nicht auf äußere Einmischungen berufen können, um das Chaos zu erklären, das sie angerichtet haben.
Vermeintlich kritikwürdige Geschehnisse
In Sachen CETA kann man Jean-Claude Juncker immerhin vorwerfen, den wirklich ungünstigsten Zeitpunkt – das EU-Gipfeltreffen nach dem Brexit – gewählt zu haben, um den noch 28 EU-Staaten mitzuteilen, dass die nationalen Parlamente kein Veto-Recht bei diesem internationalen Abkommen haben würden. In der Sache hingegen war Jean-Claude Juncker ganz in seiner Rolle. Als Hüter der Verträge und nach Konsultation seiner Juristen trug er den 28 vor, was deren Staaten mit dem Lissabonner Vertrag entschieden hatten: dass nämlich internationalen Abkommen lediglich der zuständige Ministerrat sowie das EU-weit demokratisch legitimierte Europäische Parlament zustimmen müssen.
Selbst die Entscheidung zu den Defizitverfahren gegen Spanien und Portugal wollen so manche dem EU-Kommissionspräsidenten als Willkürakt anhängen und ihn als zu politischen und in keiner Weise den Regeln verbundenen Hausherrn im Berlaymont-Gebäude anschwärzen. Dies dürfte nun ins Leere laufen, da die weitere Prozedur gegen Portugal und Spanien sowohl die Verfechter einer strikten Regelanwendung als auch jene, die angesichts der Krise Nachsicht walten lassen wollen, zufriedenstellt.
Die Fokussierung auf diese vermeintlich kritikwürdigen Geschehnisse dürfte dazu beitragen, dass einmal berechtigte Beanstandungen kaum Beachtung finden werden.
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