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Eine andere Welt

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Umverteilen, um zu überleben

Bis Sonntag diskutieren Zehntausende Gäste und Vertreter von rund 1.300 NGOs beim Weltsozialforum in Montréal über das Pariser Klimaabkommen, über Chancen für die Jugend und Steuergerechtigkeit (siehe Seite 2 und 3 der Printausgabe vom Samstag). Doch dem 2001 erstmals stattfindenden Alternativtreffen zum Weltwirtschaftsforum im Schweizer Davos geht offenbar die Luft aus. „Das Weltsozialforum verliert an Einfluss und wir müssen es erneuern“, sagte der französische Attac-Sprecher Dominique Plihon der französischen Presseagentur AFP. Ein weiterer Ausdruck einer sich abzeichnenden Schwächung der linken, alternativen Bewegungen? Die paneuropäische Initiative des griechischen Ex-Finanzministers Yanis Varoufakis kommt nicht aus den Startblöcken. Die Linkskräfte in der EU schwächeln, nicht überall, aber auch in wichtigen EU-Ländern wie Deutschland und Frankreich. Sie müssen oftmals Rechtspopulisten das Feld überlassen, die sich der Seelen und Hirne der sich politisch verlassen fühlenden Arbeiter, Kleinangestellten und anderen Verlierer des herrschenden Wirtschaftssystems bemächtigt haben.

Lucien Montebrusco lmontebrusco@tageblatt.lu

Lange galt der blühende Kapitalismus, wie er sich in den sogenannten „trente glorieuses“ darstellte, als klare Widerlegung der Prognose von Karl Marx, wonach im Zuge der Entwicklung des kapitalistischen Systems die Arbeiterklasse verarmen würde. Das Gegenteil sei der Fall. Nun erfährt der Trierer Philosoph späte Genugtuung, auch wenn der Begriff der Arbeiterklasse wohlweislich längst nicht mehr allein auf den klassischen Industriearbeiter reduziert werden darf und man eher von relativer Verarmung reden muss, als Ausdruck des sich vertiefenden Grabens zwischen Habenden und Habenichtsen. Längst garantiert ein guter Schulabschluss keine gesicherte Berufsperspektive samt angenehmem Einkommen mehr.

Insbesondere die politischen Folgen dieser Pauperisierung – der Rechtsruck in den entwickelten Ländern und der Kraftzuwachs rechter Parteien wie des Front national in Frankreich, der FPÖ in Österreich oder der AfD in Deutschland und anderer Verführer in Gestalt eines Donald Trump in den USA – verunsichern zunehmend auch jene treibenden Kräfte des Kapitalismus, die bisher dessen unbegrenzte Freiheit forderten. „Die Mächtigen der Welt haben ein neues Projekt: Sie wollen den Gegnern der Globalisierung mit Umverteilung den Wind aus den Segeln nehmen“, schrieb Die Zeit unlängst. „In einem fensterlosen Hotelzimmer, Tausende Kilometer von Berlin entfernt, fiel am vergangenen Samstag ein Satz, der die Welt verändern könnte: ‹Die Vorteile des Wirtschaftswachstums müssen breiter verteilt werden, um die Inklusion zu fördern.’“ Der Satz sei die zentrale Botschaft der Abschlusserklärung der G20-Staatengruppe gewesen und damit so etwas wie die Regierungserklärung des Gremiums. „Er kündigt einen aufregenden politischen Großversuch an: die Sozialdemokratisierung der Weltwirtschaft. Sie soll verhindern, dass die Welt den Populisten in die Hände fällt.“ Und auch der ehemalige US-Arbeitsminister Robert B. Reich forderte letzte Woche in einem Spiegel-Gespräch eine „gerechtere Umverteilung des Wohlstands“.

Schon seltsam, dass der Kapitalismus sich nun selbst aus dem Sumpf ziehen soll, den er selber produziert hat. Werden in absehbarer Zukunft Großveranstaltungen wie das Weltsozialforum also überflüssig werden? Kaum, denn die oben herbeigesehnte Umverteilung würde wohl nur für ein bisschen weniger Armut reichen. Für eine gerechte Umverteilung bedarf es nach wie vor des Drucks von unten. „Wir brauchen eine andere Welt. Gemeinsam ist es möglich“ – das Motto des Weltsozialforums bleibt aktuell.