Wäre es unziemlich, „shocking“, vermessen, die politische Rede, die OGBL-Präsident Roeltgen heute Abend mit Blick auf den 1. Mai hält, auf eine Ebene mit der Erklärung des Premiers zur Lage des Landes zu stellen? Streckenweise als Kontrapunkt, im Sinne der notwendigen Auseinandersetzung?
Im demokratischen System sind Gewerkschaften (die des Salariats, nicht zu verwechseln mit den Berufsverbänden) natürlich mehr als Lohnkampfmaschinen.
Es ist ihr gutes Recht, die Lage ihrer Mitglieder und überhaupt der Lohnabhängigen in den Kontext der globalen und der lokalen Probleme zu stellen. Aus einer solchen Analyse ergeben sich Kritik, Empfehlungen und Forderungen, die öffentlich vorgetragen werden, in der Erwartung, Gehör bei den politisch Verantwortlichen zu finden.
Da es keinerlei Pflicht für die politischen Entscheidungsträger gibt, die Gewerkschaften anzuhören oder ihnen gar zu folgen, müssen Letztere, wenn notwendig, ihren Einfluss auf die Wähler geltend machen. So schalt Roeltgen die konservative CSV schon vor Wochen wegen ihrer wiederholten Verweise auf Risiken, die Luxemburg zu einer vorsichtigeren Lockerung der Austerität zwängen.
Budget und Schulden fest im Griff
Tatsache ist doch, dass die jetzige Regierung, wie Xavier Bettel mit Genugtuung hervorhob, das Budget und die Schulden so fest im Griff hat, dass Luxemburg EU-Europas Klassenbester wurde.
Es stellt sich jetzt ganz eindeutig die Frage, wie die verfügbaren Mittel gerecht eingesetzt werden können. 2014 segelte die Koalition noch auf dem EU-Sparkurs, 2015 und 2016 kamen mutige Korrekturen, aber in den Taschen (oder auf den Konten) fehlt noch immer ein Teil der staatlich konfiszierten Kaufkraft.
Uns würde nicht wundern, wenn der OGBL-Chef Klartext in Sachen Pflegeversicherung und darüber hinaus generell Sozialpolitik redete. Die drei Parteien, die sich 2013 zusammenfanden, sollten sich die Gewerkschaften zu Verbündeten machen, solange sie das noch auf eine glaubwürdige Art und Weise können. Im Grunde genommen ist die Aufgabe der Politik denkbar einfach. Sie hat dem Allgemeinwohl zu dienen, nicht dem der großen, globalen Konzerne und Finanzmächte. EU-Europa ist in die Existenzkrise geraten, weil „Brüssel“ (damit sind der Rat, die Kommission und das Parlament gemeint) das Allgemeinwohl nicht verteidigte, als die Herren des Geldes Opfer verlangten, um ihre Geschäfte zu sanieren.
Unzufriedene Menschen werden anfälliger für nationalpopulistische Theorien
In der EU führte die willkürliche Begrenzung der staatlichen Budgets in ein paar Jahren zum Abbau vieler Leistungen. Parallel sanken die Investitionen, stiegen Armut und Arbeitslosigkeit, wurden Millionen und Abermillionen Menschen unzufriedener, unglücklicher.
Unzufriedene, unglückliche Menschen werden anfälliger für nationalpopulistische Theorien und Programme. In Frankreich flogen der Le Pen fast 22% der Stimmen zu; alles deutet darauf hin, dass sie im zweiten Wahlgang 40 und mehr Prozent bekommt. Die einst stolzen Gauche und Droite sind mit ihren Parteien klinisch tot: Das ist die Bilanz der Unterwürfigkeit.
Gebückt und schlotternd sind die bürgerlichen und die sozialdemokratischen Politiker Europas dem Neoliberalismus begegnet, anstatt aufrecht und stark. Damit muss Schluss sein nach dem letzten Warnschuss im großen Frankreich.
Das kleine Luxemburg findet „draußen“ keine Vorbilder. Es muss seinen Weg in die Zukunft selber entwerfen. Das gelingt, wenn die Politik mit ihren Auswirkungen als fair und sozial empfunden wird, insbesondere vom Salariat.
Lest morgen, nach Bettel, auch den ganzen Roeltgen, ihr Damen und Herren Volksvertreter!
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