Den ersehnten Ruhetag nutzte Jonas Vingegaard zur mentalen Generalüberholung: Ausschlafen, eine lockere Ausfahrt, keine lästige Medienrunde mit kritischen Nachfragen. Und vor allem: Nichts sehen und wenig hören von seinem großen Rivalen Tadej Pogacar, der dem Titelverteidiger und (Noch-)Gesamtführenden der Tour de France mächtig zusetzt und in den Bergen wie eine lästige Fliege um ihn herumschwirrt.
„Ich bin im Gelben Trikot, und meine Etappen kommen jetzt erst. Deshalb bin ich wirklich zufrieden“, sagte der 26 Jahre alte Däne, obwohl ihn Pogacar am Sonntag am Puy de Dôme zum zweiten Mal in Folge steil bergauf niedergerungen hatte, stärker wirkte und nur noch 17 Sekunden hinter Vingegaard zurückliegt.
Doch während der zwei Jahre jüngere Slowene im Kampf um seinen dritten Tour-Titel nach 2020 und 2021 abseits der Landstraßen so cool und angriffslustig reüssiert wie auf jenen – „mir geht es supergut“, sagte Pogacar, die Kletterei am Puy de Dôme habe sich angefühlt wie „heraufzufliegen“ –, ist dem wortkargen Vingegaard eine gewisse Dünnhäutigkeit anzumerken.
Pogacar im Hochgebirge stärker
Alles bezüglich Pogacar müsse man eben mit diesem besprechen, entgegnete Vingegaard am Sonntag auf die Frage nach einem Mittel gegen Pogacars Angriffe, er selbst befasse sich mit seinem Kontrahenten nicht. „Wenn ich mich auf eine Tour vorbereite, denke ich nicht an ihn, sondern daran, wie ich mich verbessern kann“, sagte Vingegaard. Und darauf wolle er sich auch bei den nächsten Kräftemessen am Grand Colombier am Freitag und in den Alpen konzentrieren.
Doch genau in jenen Bereichen, in denen Vorteile Vingegaards erwartet worden waren, hatte dieser bislang keine. Im Hochgebirge ist er nicht unantastbar wie noch 2022. Und vom erwarteten Form-Plus gegenüber Pogacar, der bis kurz vor der Tour mit den Folgen eines Kahnbeinbruchs kämpfte, ist nichts zu spüren.
Und so dürfte es bis zur letzten Bergetappe am vorletzten Tourtag ein faszinierendes Duell auf Augenhöhe werden. Welches seinen Reiz abgesehen von der außerordentlichen sportlichen Qualität beider Rivalen vor allem aus den völlig gegensätzlichen Typen zieht – wie einst bei Coppi/Bartali, Anquetil/Poulidor, Fignon/LeMond oder Armstrong/Ullrich.
Rollentausch
„Ich kann mich nicht erinnern, als Favoriten schon einmal zwei so verschiedene Charaktere gesehen zu haben“, sagte der frühere Tour-Sieger Andy Schleck in L’Equipe: „Tadej hat immer Spaß, macht Witze, spricht viel. Jonas ist total scheu, spricht kaum und strahlt eine gewisse Arroganz aus.“ Und überhaupt würde Schleck die Fahrweise von Vingegaards mächtigem Jumbo-Visma-Team – sacrebleu! – eher „an eine deutsche Panzerarmee“ erinnern.
„Was Schleck sagt, kümmert mich nicht“, sagte Vingegaard: „Arrogant? Ich bin vielleicht ruhig, aber nicht unnahbar.“
Dennoch: Der kühle Vingegaard muss sich damit abfinden, in Frankreich nicht der Publikumsliebling zu sein, der er noch im Vorjahr beim Tourstart in seiner dänischen Heimat war. Und damit, dass Pogacar, der zuvor als blutjunger Dominator aus einem UAE-Team mit durchaus zwielichtigem Personal kritisch beäugt wurde, plötzlich ein Sympathieträger ist.
Der Rest des Feldes kann derweil das Duell der Superfahrer nur staunend aus der Ferne beobachten. „Die beiden sind einfach in ihrer eigenen Liga“, sagte Bora-hansgrohe-Kapitän Jai Hindley am Ruhetag. Nach der ersten Pyrenäen-Etappe trug der Australier noch Gelb, nun führt er gewissermaßen im „Spiel um Platz drei“ – mit 2:40 Minuten Rückstand auf Vingegaard. (SID)
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