Der jüngste Vulkan der „Chaîne des Puys“ ist auch ihr höchster Gipfel. Er hat sich einen besonderen Platz in der Geschichte der Tour verdient, da er bei der Ausgabe 1952 zu den ersten drei großen Bergankünften gehörte. Damals gewann der spätere Schlusssieger Fausto Coppi sowohl auf dem „Puy“ als auch in „L’Alpe d’Huez“ und in Sestriere.
Giro- gegen Vuelta-Sieger
Es sind jedoch nicht die Bilder von Coppis Sieg oder der Attacke auf Eddy Merckx (ein Zuschauer versetzte dem Belgier einen Leberhaken), sondern diejenigen des Duells zwischen Jacques Anquetil und Raymond Poulidor, die die Zeiten überdauert haben.
Damals, im Sommer 1964, glaubte man, Anquetil, der eine Woche vor dem Start in Rennes mit einem Gesamtsieg bei der Italien-Rundfahrt nach Frankreich zurückkehrte, könnte das Double Giro-Tour nicht schaffen. Er, der 30-Jährige, der sich drei Wochen lang auf der Halbinsel den Angriffen der italienischen „Meute“ ausgesetzt sah, wirkte derart müde und ausgelaugt, dass der Traum eines fünften Siegs bei der Frankreich-Rundfahrt in weite Ferne gerückt schien. Umso mehr, da mit dem 28-jährigen Raymond Poulidor ein Gegner bereitstand, der im Mai die Vuelta gewann und zwei Jahre zuvor als Dritter aufs Tour-Podium stieg.
Im Hexagon sorgte das Duell der beiden Aushängeschilder des französischen Radsports für Streit in den Familien. Mein Berufskollege Jacques Augendre, damals Journalist in der französischen Zeitung L’Equipe, heute genau wie Anquetils sportlicher Leiter Raphaël Geminiani 98 (!) Jahre jung, hat Jahre später wie kein anderer die Ursachen hierfür zu Papier gebracht (frei aus dem Französischen von mir übersetzt):
„Droite contre gauche“
„Nach der Auseinandersetzung zwischen Coppi und Bartali, die fünfzehn Jahre lang die italienische Halbinsel in Brand setzte, riss die Rivalität zwischen Anquetil und Poulidor Frankreich so stark auseinander, wie es nur die Politik tun kann … Dass sie in den Gazetten einen so großen Platz einnahm, lag zweifellos daran, dass sie tatsächlich die ultimative Rivalität darstellte. Sie konfrontierte zwei Athleten und zwei Männer, die völlig gegensätzlich waren, den Blonden und den Braunen, den teutonischen Wikinger mit dem ausgemergelten Gesicht und den Limousin-Landbewohner mit dem blühenden Antlitz, den Introvertierten und den Extrovertierten, den Mondänen und den Rustikalen, den Stadt- und den Landrennfahrer, den langbeinigen Rouleur und den muskulösen Kletterer, den, der befiehlt, und den, der erduldet. Politisch gesehen, und ohne dass dies unbedingt rational ist, verkörperte der eine, Anquetil, die realistische und triumphierende Rechte. Der andere, Poulidor, repräsentierte die populärere, aber weniger erfolgreiche Linke.“
Eine Runde zu wenig
Ähnlich sah es Michel Winock, ein Spezialist für zeitgenössische Geschichte, der 1987 in seiner „Chronique des années soixante“ folgendes schrieb (frei übersetzt): „Beide Fahrer kamen aus einem ländlichen Umfeld, aber sie bewegten sich nicht in der gleichen landwirtschaftlichen Zivilisation. Anquetil repräsentierte die moderne Agrikultur, Poulidor war die Figur des ‚resignierten Bauern‘, der sich keinen Illusionen hingab. Anquetil war das Symbol der Marktwirtschaft, spekulativ, unternehmerisch. Er trank Whisky und reiste mit dem Flugzeug. Bei der Tour wie im Leben war er der Boss.“
Vor der drittletzten Etappe, die zum Puy-de-Dôme führte, waren beide Fahrer nur durch 56 Sekunden getrennt. Anquetil führte und trug das „Maillot jaune“. Er hatte das Glück, dass Poulidor im Laufe der Tour wertvolle Zeit durch seine Mechaniker verlor, die bei Defekten manchmal stümperhaft vorgingen. Auch verkalkulierte „Poupou“ sich bei der Etappenankunft in Monaco. Er glaubte, am Ziel zu sein, und nahm den Druck von den Pedalen. Allerdings blieb noch eine Runde zu fahren, sodass Anquetil sich am Schluss den Sieg und die damit verbundene Zeitvergütung von einer Minute holte.
Der Tote lebt
Am 12. Juli 1964, einem Sonntag*, führte die 18. Etappe über 237,5 km von Brive-la-Gaillarde zum Puy-de-Dôme. Ausgangs Clermont-Ferrand, also dort, wo die Schlusssteigung beginnt, lag die Gruppe um Anquetil noch beieinander. Neben dem Träger des Gelben Trikots waren alle Favoriten präsent: die Franzosen Raymond Poulidor, Henry Anglade und André Foucher, die Spanier Federico Bahamontes, Julio Jimenez, Francisco Gabica und Fernando Manzaneque, der Italiener Vitorio Adorni, der Holländer Jan Janssen und der Deutsche Klaus Junkermann.
Anquetil war also noch am Leben, obwohl er nach Voraussagen des „Hellsehers“ Belline in France Soir (Auflage damals 700.000 Exemplare) längst hätte tot sein müssen. Vor der Tour hatte die Zeitung proklamiert, Anquetil würde am 6. Juli zwischen Andorra und Toulouse im „Port d’Envalira“, dem höchsten Straßen-Gebirgspass der Pyrenäen, tödlich verunglücken. Makabrer und geschmackloser geht’s wohl kaum!
Rund 4,5 km vor dem Gipfel des Puy-de-Dôme, als die Rampe steiler wurde, machte Jimenez sich aus dem Staub, er gewann später mit 11 Sekunden Vorsprung auf Bahamontes. Um die beiden Spanier wurde wenig Aufhebens gemacht, im Vordergrund stand vielmehr das Duell zwischen Anquetil und Poulidor, das entscheidend für den Ausgang der Tour sein sollte. Auf der letzten Etappe war zwar noch ein 27,5 km langes Zeitfahren zwischen Versailles und Paris vorgesehen, doch alle wussten, dass „Maître Jacques“ in dieser Disziplin unschlagbar war.
Schulter an Schulter
Raphaël Geminiani, seinerzeit Rivale von Charly Gaul und danach technischer Direktor von „St-Raphaël Gitane“, hatte seiner Truppe schon am Vorabend eingeimpft, alles zu tun, um Poulidor daran zu hindern, in der Gesamtwertung an Anquetil vorbeizuziehen.
Seinem Leader befahl er, im Anstieg nicht hinter Poulidor, sondern neben ihm zu fahren. Dadurch würde der Gegner irritiert.
Und so kam es, dass beide Fahrer die Flanken des Riesen in der Auvergne eine Zeitlang eng nebeneinander erstiegen. Als schließlich die linke Schulter der goldenen Tunika des Champions aus der Normandie das BP-Wappen berührte, das den rechten Oberarm des violett-gelben Trikots von Poulidor zierte, war der Höhepunkt des Einschüchterungskrieges erreicht. Beide Fahrer versuchten, aufrecht auf ihren Maschinen sitzen zu bleiben und um alles in der Welt nicht zu stürzen.
Die Fotografen waren den zwei Sportlern manchmal so nahe, dass Poulidor durch den Auspuff eines Motorrades Verbrennungen an der Wade erlitt. Im allgemeinen Tumult schoss der Starfotograf von L’Equipe, Roger Krieger, das Bild, das Anquetil und Poulidor Schulter an Schulter zeigt und das später nicht nur in meinem Gedächtnis die Tour 1964 charakterisieren sollte.
Ein historisches Foto
Weil es damals noch kein Internet zur Übermittlung der Bilder gab, mussten die Fotografen einen sogenannten Belinographen benutzen, eine vorsintflutliche Erfindung aus dem Jahre 1913, bei der die Fotos über gewöhnliche Telefonleitungen übertragen wurden. Das kostete viel Zeit und viel Geld, und nicht jeder konnte mit solch einem Apparat umgehen. Ein entsprechendes Empfangsgerät hatten wir damals auch in der Tageblatt-Redaktion stehen.
Wegen der hohen Kosten und aus Zeitgründen übermittelten die Tour-Fotografen von L’Equipe in den sechziger Jahren höchstens drei oder vier Bilder pro Etappe. Etwas überraschend erschien das Foto von Roger Krieger am Tag nach der Puy-de-Dôme-Etappe nicht in L’Equipe. Den verantwortlichen Redakteur ließ der historische Wert des Bildes kalt.
Als Aufmacherfoto wählte die Redaktion viel lieber den Angriff von Raymond Poulidor, der Anquetil 950 m vor dem Gipfel abhängte. Als Etappendritter hinter Jimenez und Bahamontes machte „Poupou“ allerdings nur 42 Sekunden auf den Leader wett.
Anquetil behielt 14 Sekunden Vorsprung. Beim Zeitfahren am Schlusstag baute der Träger des „Maillot jaune“ und spätere fünffache Tour-Sieger den Abstand auf 55 Sekunden aus. Das entspricht in etwa der Distanz zwischen den Pariser Metrostationen Concorde und Champs-Elysées-Clémenceau.
Das Schulter-an-Schulter-Bild wurde erst in einer späteren Ausgabe von L’Equipe abgedruckt. Danach trat es seinen Weg um die ganze Welt an.
* Die Tour endete damals am französischen Nationalfeiertag (14. Juli), einem Dienstag.
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