Der Zettel, der unter der Tür in mein Zimmer geschoben wurde, verhieß nichts Gutes. „Debido a la huelga convocada para los dias 29/06/2023 y 30/06/2023 por parte del sector hostelero de Vizcaya, no podemos garantizar todos los servicios del hotel“, stand in großen Lettern darauf geschrieben. Was, auf Deutsch übersetzt, so viel heißt wie: „Aufgrund des Streiks, zu dem das Gastgewerbe von Vizcaya für die Tage 29.6.2023 und 30.6.2023 aufgerufen hat, können wir nicht alle Hoteldienstleistungen garantieren.“
Gelassen bleiben
Kaum hatte man mir an der Hotelrezeption 20 Euro pro Tag für ein Upgrade abgeknöpft, als man auch gleich mit weniger Dienstleistung nachlegte. Hältst du die linke Backe hin, bekommst du als Belohnung gleich eine auf die rechte drauf!
Nichts ist für einen Protestler willkommener als ein sportlicher Großanlass, um in der Öffentlichkeit auf seine Forderungen aufmerksam zu machen. Kaum berücksichtigt wird dabei, dass es meistens die falschen trifft. In diesem Falle all diejenigen, die von nah und fern etwas mit der Tour de France zu tun haben.
Am Montag zieht die Karawane weiter. Und mit ihr all diejenigen, die im schönen Baskenland für zwei Tage auf eine Reihe sonst üblicher Hoteldienste verzichten mussten. Die Probleme aber bleiben vor Ort. Eine Lösung ist für die Beteiligten noch in weiter Ferne.
Am Donnerstag und Freitag streikten in Bilbao nicht nur viele Leute aus dem Gastgewerbe, sondern auch aus der Baubranche. Es gab verschiedene Umzüge, mal regnete es in Strömen, kurze Zeit später aber traute die Sonne sich wieder hinter den dunklen Wolken hervor.
Streikerprobt
Wegen der Demonstrationen war die Gran Via Don Diego Lopez de Haro, die zum Plaza de Don Federico Moyua, dem Nabel Bilbaos, führt, teilweise so verstopft, dass sich die Autofahrer in Geduld üben mussten, um ihr Ziel zu erreichen. Die Passanten nahmen die Sache gelassen hin, niemand regte sich auf, höchstens ein Achselzucken hier und dort, und schon ging man wieder zur Tagesordnung über.
Für einen Basken sind Attentate, Manifestationen und Streiks keine Fremdwörter. Zwar hat sich die „Euskadi ta Askatasuna“, kurz ETA, (Baskisch für „Baskenland zur Freiheit“) am 2. Mai 2018 selbst aufgelöst. Vorher war die ETA eine marxistisch-leninistische, separatistische, baskisch-nationalistische Untergrundorganisation, die für rund 4.000 Terroranschläge mit 830 Toten und 2.300 Verletzten verantwortlich zeichnete.
Mit Streiks können die Basken umgehen, sie sind auch heute noch stolz auf den Generalstreik vom 20. Januar 2020, der die ganze Wirtschaft im Nordosten Spaniens fast zu Boden zwang. In Sachen Arbeitsniederlegung hält man in Bilbao sogar den inoffiziellen Weltrekord.
Der 9. Juli 1949
So dauerte der Streik von rund zwei Dutzend Mitarbeitern der 45-köpfigen Belegschaft der Pharma-Logistikfirma Novaltia in Bilbao ganze 1.345 Tage (drei Jahre und acht Monate), ehe die Direktion des Werks nachgab und ihren Mitarbeitern eine Lohnerhöhung von 34 Prozent zugestand. Der Streik wurde vor rund drei Monaten, Anfang April 2023, beendet. Künftig erhält eine Lagerarbeiterin um die 22.500 Euro im Jahr (1.607 Euro in 14 Gehältern). Zusätzlich wurde eine einmalige Summe von 9.500 Euro ausbezahlt, auch gab es rückwirkend 60 Tage Urlaub. Vergleichsweise liegt die Armutsgrenze im Baskenland bei rund 1.300 Euro.
Kommen wir zum Sportlichen und zur Tour, für die es am Donnerstagabend bei der Vorstellung der Mannschaften trotz viel Regen eine Menge Begeisterung gab. Die Liebe der Basken zur Tour de France geht auf den 9. Juli 1949 zurück. Damals führte die neunte Etappe über 228 km von Bordeaux nach San Sebastian. Der Franzose Louis Caput gewann, sein Landsmann Jacques Marinelli streifte das „Mailliot jaune“ über. Schlusssieger aber wurde der italienische „Campionissimo“ Fausto Coppi, der diesen Erfolg drei Jahre später (1952) wiederholte.
„Der Lahme“
Als die Tour 1949 in San Sebastian Halt machte, waren keine spanischen Fahrer mehr im Peloton, alle hatten sie vorher aufgegeben. Besser machten es die Iberer im Jahr 1977 in Vitoria-Gasteiz, wo zur größten Freude des Publikums mit José Nazabal ein baskischer Fahrer die Ziellinie als Sieger überquerte.
Die internationale Legende des baskischen Radsports geht auf die Tour de France 1910 zurück, an der ein gewisser Vicente Blanco teilnahm. Er war als „El cojo“ (der Lahme) bekannt, da er durch zwei Arbeitsunfällen im jugendlichen Alter schwere Verletzungen mit sich herumschleppte. Eine glühend heiße Stange in der Fabrik La Basconia hatte sein linkes Bein beschädigt, und sein rechter Fuß war in der Werft Euskalduna in ein Zahnrad geraten.
Blanco trat leichter in die Pedalen, als er zu Fuß gehen konnte, aber da er von Teilen der Bevölkerung verspottet wurde, hatte er Probleme, um eine Lizenz zu erhalten. Als doppelter spanischer Meister (1908, 1909), und ermutigt vom Schriftsteller Manuel Aranaz Castellanos, fuhr Blanco die tausend Kilometer von Bilbao nach Paris mit dem Rad, um bei der Tour starten zu dürfen. Aber schon gleich auf der ersten Etappe von Paris nach Roubaix traf er nach Kontrollschluss ein, weil er nicht genug zu essen hatte.
Indurains Ende
Lange Zeit galt Vincente Blanco als erster Spanier, der an der Tour de France teilnahm, bis 2004 eine Untersuchung ergab, dass Joseph Habierre, der als José Maria Javierre Rapaun in Aragonien zur Welt kam und 1909 als Franzose eingeschrieben wurde, bis zu seiner Einbürgerung nach dem Ersten Weltkrieg immer noch Spanier war.
Die größte Ehre erteilte die „Grande boucle“ dem Baskenland im Jahr 1992 mit einem „Grand Départ“, bei dem Miguel Indurain als Prologsieger der ganz große Held war. „El gigante navarro“ („Der Riese aus Navarra“) stand damals am Anfang seiner Herrschaft, die fast symbolisch gegen Ende der Tour 1996 bei ihm zu Hause in Pamplona endete.
Eigentlich sollte die Etappe durchs Baskenland zu einer Huldigung für den fünffachen Toursieger werden. Weit gefehlt! Indurain wurde abgehängt, und nach dem erstmals bei der Tour erstiegenen „Port de Larrau“ machte die Führungsgruppe mit u.a. dem späteren Gesamtsieger Bjarne Riis, Jan Ullrich und Richard Virenque derart Tempo, dass an ein Aufholen nicht mehr zu denken war. Im Ziel in Pamplona hatte Indurain über acht Minuten Verspätung, seine Karriere war zu Ende. Die Rundfahrt ging später in die Geschichte ein als die „Tour der Gedopten“. Bjarne Riis konnte der Sieg wegen der Verjährungsfrist aber nicht aberkannt werden.
Sieben Basken
Unter den 176 Fahrern, die heute Samstag in Bilbao starten, sind sieben Basken, die alle Tour-Erfahrung haben. Zwei von ihnen stellen sogar die letzten beiden spanischen Etappensieger: Ion Izagirre (Cofidis, geboren 1989 in Ormaiztegi) gewann 2016 in Morzine, als er noch für Movistar fuhr, während Omar Fraile (Ineos Grenadiers, geboren 1990 in Santurtzi) 2018 aus einer Ausreißergruppe heraus auf dem Flugplatz von Mende oben blieb, damals im Trikot von Astana.
Frailes Teamkollege Jonathan Castroviejo darf bei seiner neunten Tour gleich nach 25 km seinen Heimatort Getxo durchfahren. Gorka Izagirre (Movistar, geboren 1987 in Ormaiztegi) beginnt seine zehnte Tour, während sein junger Teamkollege Alex Aranburu (Movistar, geboren 1995 in Ezkio) nach der einzigen Teilnahme im Jahr 2021 sein Tour-Comeback feiert.
Im Hinblick auf die Gesamtwertung ruhen die größten Hoffnungen auf den Schultern von Mikel Landa (Bahrain Victorious, geboren 1989 in Murgia), der die Tour bei fünf Teilnahmen viermal unter den ersten sieben beendete. Das Ziel von Pelle Bilbao (Bahrain Victorious, geboren 1990 in Guernica), der 2021 die Top 10 erreichte (9. Platz), ist es, noch weiter nach oben vorzustoßen.
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