Orthopädische Erkrankungen, insbesondere der Wirbelsäule, gehören zu den am meisten behandelten Berufskrankheiten. Auffällig dabei ist, dass nicht nur in schwer arbeitenden Berufsgruppen – wie auf dem Bau, im Bergbau oder auch im Transportwesen – Wirbelsäulenerkrankungen auftreten. Auch bei im Allgemeinen als leichte Arbeiten angesehenen Tätigkeiten wie Büro- und Computerarbeit können Beschwerden des Stützsystems auftreten.
Eine deutliche Zunahme dieser Erkrankungen verzeichnen Krankenkassen und Berufsgenossenschaften mit der inzwischen mehr als ein Jahr andauernden Covid-19-Pandemie. Ein Grund dafür ist die Verlagerung vieler Bürotätigkeiten in das sogenannte Home-Office. Arbeiten zu Hause, ohne einen mühsamen Arbeitsweg bei widriger Witterung auf sich nehmen zu müssen, erscheint als fast ideale Vorstellung. Doch gerade hier sind die Bedingungen für langwährende Arbeitszeiten am Computer in vielen Fällen nicht optimal. Schlechte Bestuhlung (wir berichteten im Magazin) und unergonomische Arbeitsplätze führen häufig zu Verspannungen und in der Folge zu orthopädischen Beschwerden und Erkrankungen. Umfragen zufolge klagen etwa zwei Drittel der Menschen, die täglich mehr als drei Stunden am Computer arbeiten, über Gelenkschmerzen in Hand und Ellenbogen, Nackenverspannungen und Kribbeln in der Hand.
Mit Unterstützung des emeritierten Professors für Sportorthopädie der Deutschen Sporthochschule Köln Dr. Wolfgang Menke wollen wir einigen Ursachen und Erscheinungsformen vor allem solcher mit orthopädischen Beschwerden, die den Nacken- und Schulterbereich betreffen, auf den Grund gehen. In seiner Praxis als Sportmediziner, Leiter der Rehaklinik Saarschleife in Mettlach-Orscholz sowie als orthopädischer Leiter des Zentrums für ambulante Rehabilitation (ZAR) in Trier hat Wolfgang Menke vielzählige Traumata im Gelenk- und Bewegungsapparat seiner Patienten gesehen, behandelt und dokumentiert.
An der präzisen Steuerung dieser Richtfunktion der Halswirbelsäule sind bis zu 80 kurze und kleine, gerade, quer und schräg verlaufende Muskeln beteiligt, die in mehreren Schichten übereinander angeordnet und an den diversen knöchernen Strukturen des Schädels und der Wirbelkörper ansetzen. Am stärksten ausgeprägt ist dabei die Nackenmuskulatur. Diese ist im wachen Zustand des Menschen ständig angespannt. Denn der Schwerpunkt unseres Kopfes liegt etwas vor der Halswirbelsäule, die Nackenmuskulatur verhindert, dass unser Kopf nach vorn fällt – eindrucksvoll ist dies zu beobachten, wenn ein Mensch im Sitzen einschläft und der Kopf auf die Brust sinkt.
Welche Kraft die Nackenmuskulatur aufbringen muss, lässt sich an einem in der Praxis häufig beobachteten Beispiel zeigen. Beim Blick auf unser Mobiltelefon senken wir den Kopf um etwa 45 Grad. Bei gerader Haltung des Kopfes trägt die Nackenmuskulatur das Eigengewicht unseres Kopfes von etwa vier bis fünf Kilogramm. Wird der Kopf jetzt um die besagten 45 Grad nach vorne geneigt, wird dann die vier- bis fünffach höhere Kraft von der Nackenmuskulatur abgefordert. Erwähnt sei noch die geschlechtsspezifische Besonderheit, dass der männliche Kopf etwa eineinhalb Kilogramm mehr wiegt als sein weibliches Pendant. Entsprechend sind auch die Muskeln im Halswirbelbereich bei Männern stärker ausgeprägt als bei Frauen. Dieser physiologische Unterschied macht sich auch im Unterschied der Beschwerdeanfälligkeit zwischen beiden Geschlechtern bemerkbar: Bei Schmerzen im Bewegungsapparat klagen 55 Prozent der Frauen über Nackenbeschwerden. Bei Männern liegt dieser Anteil nur bei 35 Prozent.
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Wie fragil der Bereich der Halswirbelsäule ist, zeigt auch ein kulturhistorisches Beispiel. Im Volk der Padaung in Myanmar galt der „Giraffenhals“ als Ausdruck besonderer Schönheit bei Frauen. Schon im Kindesalter wurden den Mädchen goldene Ringe um den Hals gelegt und im Wachstum stets mit neuen ergänzt. Die so gestreckte Halswirbelsäule benötigt diesen künstlichen Halt auch im Alter, ohne die Ringe könnte die Halswirbelsäule den Kopf nicht tragen. Zudem ist der Kopf in seinen Drehbewegungen stark eingeschränkt, Nackensteife und Schmerzen sind vorprogrammiert.
In unserer westlichen Kultur hat vor allem die veränderte Arbeitswelt für eine deutliche Zunahme an Nackenbeschwerden gesorgt. Dies insbesondere bei all jenen Menschen, die lange und oft im Büro und am Computer arbeiten. Sie laufen nach jahrelanger einseitiger Tätigkeit eine besonders hohe Gefahr, im Bereich der Halswirbelsäule zu erkranken.
Unser Experte
Der pensionierte Mediziner leitete die Rehaklinik Saarschleife in Mettlach-Orscholz, war daneben lange Zeit als Orthopäde auch in Luxemburg tätig und ist jetzt noch im ambulanten Rehazentrum ZAR in Trier beschäftigt.
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