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Vom Feuersturm zur Eiszeit

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Irgendwie ist der Wurm drin in den Beziehungen zwischen dem Westen und Russland. Wieso das so ist und wo die Missverständnisse gründen, die auch auf die Präsidentschaftswahl vom 18. März niederschlagen, versucht der russische Autor und Medienexperte Vasily Gatov zu erklären.

Tageblatt: Russland und der Westen haben sich entfremdet. Dafür mussten zuerst verschiedene Weltbilder entstehen. Wie ist es dazu gekommen?

Vasily Gatov: Das wurde irgendwann zu einer zweispurigen Straße. Auf der einen Seite waren die USA und Europa vor allem Ende der 90er so siegestrunken darüber, dass sie endlich ein Europa ohne Konflikte, ohne Konfrontation zwischen Ost und West hatten, dass sie die Wiederauferstehung eines russischen Staates ignorierten oder übersahen. Sie haben geglaubt, dass russische Sicherheitsbedenken nicht mehr zu berücksichtigen wären, weil es sich um einen besiegten Gegner handele.

Was hat das in Russland bewirkt?

Es hat den Weg für diesen speziellen Nationalismus bereitet, der kein normaler ist, der andere Nationen noch irgendwie respektiert, sondern ein imperialistischer, feindseliger Nationalismus. Ein Signal, das der Westen hätte hören können – und es war nicht das erste –, waren die russischen Sicherheitsbedenken in Bezug auf die NATO-Bombardierung Belgrads und Serbiens im Jahr 1999. Russland war sehr deutlich damals: Es äußerte seine Sicherheitsbedenken und den Wunsch, diese respektiert zu sehen. Und anders als bei vielen Situationen, die folgen sollten, waren die russischen Interessen am Westbalkan, ich würde nicht sagen legitim, aber nachvollziehbar. Dadurch, dass Clinton und die NATO dies ignorierten, haben sie die Verbitterung heraufbeschworen über den Verlust der sowjetischen Größe und Wichtigkeit – besonders unter den russischen Eliten.

Russland empfindet die NATO-Osterweiterung als riesigen Affront, während der Westen die Aufregung nur mäßig nachvollziehen kann. Wie wurde, wie wird diese gesehen?

Die NATO-Osterweiterung verlief in Phasen und alle wurden in Russland anders aufgefasst. Die erste wurde als legitim angesehen – okay, wir verstehen das, Polen, Tschechen und Ungarn haben sich immer schon nach Westen hin orientiert. Die zweite Welle, die bereits einige der früheren Sowjetrepubliken umfasste, hat uns wirklich missfallen – aber was hätten wir dagegen tun können? Wenigstens hatten wir wirtschaftlichen Einfluss, konnten Druck ausüben auf die baltischen Staaten, Rumänien, Bulgarien usw.

2007 kam es dann in Estland zu einem Zwischenfall, der die Russen erzürnte, was der Westen aber erneut nicht nachvollziehen konnte…

2007 war ein prägendes Jahr. Zuerst entschied Estland, ein sowjetisches Kriegsdenkmal aus dem Stadtzentrum der Hauptstadt Tallinn auf einen Friedhof zu versetzen. Das wurde in Russland als riesengroße Dreistigkeit empfunden. Jeder hat gedacht: Jetzt ist dieses Estland, dieses winzig kleine Land, über das wir uns immer lustig gemacht haben, wie die Franzosen Witze über Belgier machen, jetzt ist dieses Estland gerade mal drei Jahre EU-Mitglied – und schon beginnt es, das russische Erbe und Vermächtnis – immerhin hatte die Sowjetarmee Estland von den Nazis befreit – einfach wegzuräumen. Das war die Botschaft, wie sie damals in Russland ankam. Das war so emotional und hysterisch, bewegte sich abseits von allem Politischen. Trotzdem löste es einen Feuersturm aus: Estland wurde, und das war, glaube ich, das erste Mal in der russischen Geschichte, mit Cyberwaffen angegriffen – das Land wurde für ein paar Stunden quasi ausgeschaltet.

Im Westen wurde diese Reaktion als Zeichen sowjetischen Imperialismus gedeutet.

Ja, aber ohne dabei die russisch-estnischen Beziehungen zu begreifen und den, sagen wir, moralischen Charakter dieser Reaktion zu verstehen. Und später im Jahr 2007 führte das zu Putins Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz.

Ein Wendepunkt?

Auf jeden Fall. Fast alle erkennen die Wichtigkeit der Aussagen Putins damals in München an. Trotzdem glaube ich, dass es ein gewisses Missverstehen darüber gab, welche Botschaft Putin wirklich übermitteln wollte. Die meisten lesen die Rede als eine Ansammlung von Klagen und Kränkungen, gespickt mit Drohungen, auf diese Kränkungen mit Aktionen zu antworten, die Europas Sicherheit untergraben könnten. Der Tenor der Rede war ja folgender: Russland wurde gedemütigt, dabei ist Russland ein mächtiges Land, Europäer und Amerikaner hören uns nicht zu, wir haben 1991 so viel gegeben und nie etwas zurückbekommen, nicht einmal eine faire Anerkennung unserer Sorgen und Anliegen.

Aber was genau machte die Rede so wichtig für die künftige Ausrichtung der russischen Außenpolitik?

Interessant wird es, wenn Sie den russischen Text präzise analysieren. Also nicht nur schauen, was Putin gesagt hat, sondern wie er es gesagt hat. Dieser Text ist einer der wenigen, die Putins Denkweise wirklich offenlegen. Er hat die Rede vielleicht nicht selber geschrieben, aber er hat sicher daran gearbeitet – sie ist in dem Ton gehalten, in dem Putin redet, wenn er keinem Skript folgt. Der Westen ist im Originaltext immer der Handelnde, nicht ein Verb steht im Passiv: die USA taten, die NATO hat, die EU tat. Und Russland, sowie zum Teil Osteuropa, steht immer im Passiv: Das wurde Russland angetan …

Was bedeutet das genau?

Da Russen wie die Franzosen sehr textaffine Menschen sind, ist es wichtig, zu erkennen, wie groß der Unterschied ist zwischen dem, wie Putin andere sieht und wie er Russland sieht. Er sagt: Wir haben darauf gewartet, dass etwas passiert, das uns nützt. Das einzige, was wir erhalten haben, schadet uns. Und ganz wichtig ist das Ende, da sagt er: Die Zukunft ist anders. Das war nicht nur eine Warnung, sondern eine Kriegserklärung. Ein Krieg, der sich nicht militärisch entscheidet. Aber es war die Ankündigung, dass Russland seine wirtschaftliche Stärke mit dem Öl und dem Gas nutzen wird, um seine Interessen durchzusetzen. Beim NATO-Gipfel in Bukarest im April 2008 hat er diese Botschaft wiederholt – in einer noch drastischeren Art. Weil er erkannt hatte, dass die anderen nicht verstanden hatten, was er in München sagen wollte. Von dem Moment an hat sich die russische Außenpolitik auf jeder Ebene gedreht: bei der offiziellen Diplomatie, bei geheimdienstlichen Aktivitäten, bei militärischen Operationen auf psychologischer Ebene und im Informationsbereich – weg von einer gemeinhin neutralen Einstellung gegenüber dem Westen hin zu einer feindselig konkurrierenden.

Wollen Sie sagen, dass es ab da kein Zurück mehr gab in den Köpfen der russischen Staatsspitze?

Auch da gab es noch Möglichkeiten, die Beziehung wieder aufzubauen. Aber es beendete definitiv die Zeitspanne, in der Russland aufrichtig bereit war, die Streitpunkte zu diskutieren.

Das wurde spätestens bei der Ukraine-Krise offensichtlich. Was hat dieser Konflikt in Russlands Gesellschaft und Politik bewirkt?

Ja, aber auch weil Russland die Vorkommnisse in Kiew völlig falsch interpretierte. Russland hat das alles als Verschwörung gesehen, als würde es nun umzingelt mit Konterrevolutionen sein. Und dann gab es davor ja noch den Arabischen Frühling, dem die Russen wesentlich skeptischer gegenüberstanden als der damals vielfach euphorisierte Westen. Nun war folgendes Bild in den Köpfen der Russen entstanden: Nicht nur werden russische Interessen ignoriert, jetzt stürzen sie auch noch eine pro-russische Regierung in Kiew. Das war der Moment, als Russland dann tatsächlich in den Krieg zog. Davor war es eine Art Grenzkonflikt, ab da war es Krieg. Aber um es zu wiederholen: Kein Krieg im Sinne eines Krieges aus dem 20. Jahrhundert. Sondern eine völlig neue Art eines Konfliktes, der am Ende wohl keinen klaren Sieger haben wird, weil wir gar nicht wissen, wie Sieger in solchen Konflikten überhaupt aussehen.

86 Prozent der Russen unterstützen ihren Präsidenten. Denken alle diese Menschen, dass sie sich im Krieg mit dem Westen befinden?

Der Kreml denkt, sich im Krieg zu befinden, und versucht, diese Logik zu verbreiten, sie den Menschen mit innerrussischer Propaganda aufzudrücken. Wenn alles so suspekt ist, ist alles Verschwörung. Es ist eine Politik der Wahrnehmung, keine der Fakten. Den meisten westlichen Politikern und Journalisten fällt nicht auf, wie sehr Russland nicht von Fakten, nicht einmal von Meinungen, sondern von absolut überholten oder falschen Überzeugungen getrieben ist – es ist wie Fake News, nur Fake History.

Das klingt in Ihren Worten nach einem wirklich tiefen Graben. Wie sollte man damit umgehen?

Die innerrussische Propaganda schreibt den Menschen eine gewisse Denkweise vor: Wir sind, wie unsere Regierung, unter Belagerung, alle hassen uns. Sich selber als Opfer darzustellen, ist einer der Kernpunkte. Der psychologisch schlimmste Fehler wäre jetzt, dies zu unterstützen, indem man die Russen anders behandelt. In jeder Beziehung werden Normalität, Freundlichkeit und Leichtigkeit gebraucht. Man sollte das alles als gegeben akzeptieren. Es ist wie mit religiösen Menschen. Du kannst vielleicht ihre Überzeugungen und sogar manche ihrer Gewohnheiten nicht nachvollziehen, trotzdem hörst du nicht auf, mit ihnen zu reden. Auch wenn du es mit Staaten oder Nationen zu tun hast, die falschen oder verfälschten Vorstellungen verfallen sind, hörst du auf, dauernd darauf herumzureiten, und suchst stattdessen nach einer Gesprächsbasis, die konstruktiver ist und auf geteilten Werten oder gegenseitigem Verständnis beruht. Das ist der normale Realismus in internationalen Beziehungen – und unter Menschen.

Was kennzeichnet die moderne russische Gesellschaft in Ihren Augen am meisten, wo sehen Sie die größte Gefahr?

In Bezug auf das moderne Russland ist es notwendig, zu verstehen, wie riesig der Graben zwischen der normalen Bevölkerung und der herrschenden Elite ist. Es ist schlimmer, als es im russischen Zarenreich war, viel schlimmer als in der Sowjetunion. Das ist gewollt, nicht naturgegeben. In den meisten liberalen Gesellschaften, die Menschenrechte und die Zivilgesellschaft respektieren, liegt das Verhältnis zwischen Menschen, die Macht ausüben, und solchen, die Macht ausleben könnten, bei 1 zu 100. Demnach ist ein Prozent der Bevölkerung aktiv eingebunden, ob man jetzt Gewählter ist, Politiker, politischer Journalist, sozialer Aktivist oder Ähnliches. In Russland liegt das Verhältnis bei 1 zu 10.000. Auch ist die Konzentration von Reichtum in liberalen Gesellschaften nicht so enorm. Ungefähr 20 bis 30 Prozent des nationalen Wohlstandes konzentrieren sich auf dieses eine Prozent. In Russland sind es 60 Prozent, die sich auf ein Hundertstel von dessen verteilen, wie es in liberalen Gesellschaften der Fall ist. Russen fühlen sich viel weiter entfernt von den Menschen, die sie regieren, als das etwa in europäischen Staaten der Fall ist. Ein russischer Präsident ist wie Gott. Es kommt den Russen so vor, als lebten sie nicht einmal mehr im selben Land.

Was macht das mit den Bürgern, was mit den Eliten?

Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, wie gefährdet diese Eliten sind. Wie ängstlich sie sein müssen, da sie zahlenmäßig in viel größerem Maße unterlegen sind, als das in anderen Staaten der Fall ist. Eure Anwälte und Banker in Luxemburg wissen das übrigens besser als irgendjemand sonst. Alles, was die russischen Eliten verdienen, was sie besitzen, versuchen sie in sichere Häfen zu retten – und Luxemburg ist sicherlich einer der beliebtesten.

Was bedeutet das für den Umgang miteinander?

Man muss, wenn es eine absolute Mehrheit und eine absolute Minderheit gibt, diese in verschiedenen Sprachweisen ansprechen. Bei der absoluten Mehrheit muss man neutral sein, man sollte keine gefährlichen Botschaften verschicken. Ich meine, wieso sollte man den normalen Russen, als Nation, Angst einjagen wollen? Die bedrohen dich und deine Existenz ja nicht! Wenn Sie aber mit den russischen Eliten reden, muss man im Kopf behalten, dass mit Leuten geredet wird, die sich gerade in die Hose machen, jeden Tag. Weil sie eine solche Angst haben. Ihre Situation ist schizophren: Sie wollen sich die teuersten Sachen kaufen, haben gleichzeitig Angst, dass man sie ihnen wieder wegnimmt. Sie geben sich gerne als größer und reicher als alle anderen und jeder von ihnen gibt vor, das ganze Land kaufen zu können, wenn er es denn wollte. Andererseits sind sie so bedroht, weil es da eine Macht gibt, die über allem schwebt, und zwar das Gesetz. Mehr als den Krieg fürchten sie das westliche Rechtssystem – der Krieg ist eine Aufhebung von allem Recht, aber hier kann man alles verlieren. Genau das sollte in Betracht gezogen werden.

Fängt mit der jetzigen Präsidentenwahl, die Putin sicher gewinnen wird, auch gleichzeitig die Post-Putin-Ära an? Was bedeutet das für Russlands Zukunft?

Komischerweise ja. Es ist ja so, dass es eine Frage des Alters ist. Putin ist jetzt 66, am Ende seiner Amtszeit wird er 72 sein. Das ist das Alter Breschnews, als er abtrat. Es geht aber auch um das Alter des jetzigen Regimes, das unter einem Verlust an politischer und wirtschaftlicher Dynamik leidet. In engsten Putin-Kreisen, sogar in seiner Anwesenheit, wird das offen diskutiert. Dieser Konflikt, der sich entwickelt, erinnert mich sehr an das Ende der Breschnew-Andropow-Ära. Der Abschuss der Malaysian-Airlines-Maschine über der Ukraine erinnert an die Tragödie des Korean-Air-Fluges 007 über dem japanischen Meer im Jahr 1983. Der Konflikt in der Ukraine und der Syrienkrieg lassen an Afghanistan denken. Ich hasse Analogien in politischer Geschichte, aber es sieht aus, als würde sich Russland erneut in der Spirale seiner imperialen Vergangenheit bewegen – als wäre wieder eine Runde gemacht; dieses Mal allerdings in eher kurzer Zeit. Viele Menschen, aus den verschiedensten politischen Ecken, sehen die Notwendigkeit, über die Zukunft zu sprechen. Und die Zukunft, also eine Zukunft mit Veränderungen, ob sie jetzt positiv oder negativ sind, ist mit Putins Wille, an der Macht zu bleiben, nicht möglich. Denn Putins einzige Möglichkeit zum Machterhalt ist, nichts zu ändern.