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Türkischer Einmarsch in Syrien: Nächste Eskalation

Türkischer Einmarsch in Syrien: Nächste Eskalation

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Erst kamen die Kampfjets, mittlerweile rollen die Panzer, sind Bodentruppen unterwegs. Die Türkei hat ihren angekündigten Militärschlag gegen die von Kurden gehaltene grenznahe Stadt Afrin in Nordsyrien begonnen. Die internationalen Reaktionen reichen von Empörung bis zu stillem Gutheißen. Und trotzdem: Es ist die nächste Eskalation im Krieg um Syrien.

Aus den umliegenden Dörfern sind die Menschen bereits nach Afrin geflüchtet. Doch obwohl die türkische Führung glauben machen will, keine zivilen Ziele anzugreifen, werden die Menschen in der von den marxistischen kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) gehaltenen Stadt kaum Sicherheit finden (bis Sonntag Abend wurden sechs zivile Opfer gemeldet). Die Menschen in Afrin verstecken sich bereits in ihren Kellern. Es ist eine neue Runde in dem seit sieben Jahren andauernden Syrienkrieg – es ist eine Runde, von der noch niemand voraussagen kann, wo sie hinführen wird.

Die Türkei sieht in den YPG Verbündete der in der Türkei (wie auch in der EU und den USA) als Terrorgruppe geltenden kurdischen Arbeiterpartei, der PKK. Die Türkei will mit aller Macht verhindern, dass sich die Kurden in Nordsyrien einen quasi De-facto-Staat schaffen, der sie in ihren eigenen Unabhängigkeitsbestrebungen bestärken könnte.

Abgesehen von der humanitären Katastrophe, die Luft- und Artillerieangriffe auf bewohnte Gebiete bedeuten, bringt die Offensive den NATO-Staat Türkei gegen seine internationalen Partner auf. Die USA haben die Kurden in Nordsyrien bislang unterstützt und sie so zur Vorhut im Kampf gegen die IS-Dschihadisten aufgebaut. Eine Aufgabe, die die kurdischen Verbände gelöst haben. Der ganze Norden Syriens, von der Grenze zur Türkei im Westen (wo Afrin liegt) bis zum Irak im Osten, ist vom IS befreit – und wird mehr oder weniger durchgängig von Kurden gehalten. Für die Türkei, wie erwähnt, ein Horrorszenario und Grund des Angriffes.

In Afrin selber gibt es keine IS-Kämpfer. Anders gesagt: In Afrin greift ein NATO-Staat die Verbündeten eines anderen NATO-Staates an und kann nicht einmal behaupten, dies im Zuge des Krieges gegen den islamistischen Terror zu tun. Und die USA reagieren erst einmal nur zurückhaltend. Eine Erklärung könnte sein, dass die Türkei ihnen zugesichert hat, die Kurden nur in diesem Gebiet zu bekämpfen. Nicht ausgeschlossen ist aber, dass es sich bloß um den ersten Teil einer größer angelegten Offensive handelt, die dann wiederum zum Ziel hat, die Kurden aus dem ganzen Norden Syriens zu vertreiben oder zumindest militärisch zu besiegen – was die USA allerdings kaum akzeptieren dürften.

Die USA spielen guter Kurde, böser Kurde

Die angespannten Beziehungen der Türkei zu Russland, zusammen mit Iran wichtigster Verbündeter des syrischen Machthabers Bashar al-Assad, hatten sich zuletzt wieder normalisiert. Mitte Dezember besuchte Russlands Präsident Wladimir Putin den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in Ankara. Im Syrienkrieg unterstütze Moskau Assad, Ankara aber die Rebellen (außer den Kurden natürlich).

Vergangene Woche trafen sich eine türkische und eine russische Delegation in Moskau. Möglich wäre, dass sich die Türkei dort grünes Licht für die Offensive holte. Immerhin lässt die Türkei ihre Armee in Syrien einmarschieren, ohne dass Assad, den Moskau ja unterstützt, danach gefragt hätte. Eine klare Verletzung der territorialen Integrität Syriens.
Stellt sich also die Frage, zu welchen Bedingungen Moskau diese Offensive Ankaras stillschweigend gutheißt. Eine Erklärung könnte lauten, dass die türkische Führung der russischen (und damit der syrischen) zugesichert hat, Afrin und das Gebiet ringsherum den syrischen Regierungstruppen zu überlassen, sobald die YPG-Kämpfer besiegt sind.
Kaum vorstellbar nämlich, dass die USA einen von den Russen unterstützten Angriff der syrischen Regierungskräfte auf die eigenen Verbündeten einfach hingenommen hätten. Oder salopper formuliert: Dort, wo keine Dschihadisten weggebombt werden müssen, damit Assads Armee wieder das Sagen hat, sondern Kurden, dort dürfen die Türken ran. Das könnte eine Erklärung für die Zurückhaltung der USA sein.

Deren Ankündigung von vergangener Woche, eine neue kurdisch-arabische „Grenzschutztruppe“ in Nordsyrien zu gründen, war sowohl in Damaskus als in Ankara auf scharfen Widerstand gestoßen. Aber die USA scheinen einen Unterschied zu machen zwischen den YPG-Kurden in Afrin, die gegen die Türkei kämpfen, und den YPG-Kurden, die im restlichen Nordsyrien den IS niedergerungen haben bzw. als Bollwerk gegen die Überreste der Dschihadistentruppe gelten. Was zur Konsequenz hat, dass sich sowohl die türkischen NATO-Partner wie die von den USA für den Anti-IS-Kampf hochgerüsteten Kurden nun von Washington im Stich gelassen fühlen.

Unterstützt wird die Türkei im Kampf um Afrin von den oppositionellen, hauptsächlich sunnitischen Freischärlern der Freien Syrischen Armee (FSA). Diesen ist daran gelegen, die arabischen Dörfer rund um Afrin wieder einzunehmen, in die die kurdischen Verbände vor zwei Jahren einmarschiert waren, nachdem sie den IS von dort vertrieben hatten.
Selber war die Türkei vergangenen Herbst in die Region Idlib etwas südlich von Afrin vorgerückt, dies unter Zustimmung aus Moskau und Teheran. Alles unter dem Vorwand, dort eine sogenannte Deeskalationszone durchzusetzen. Durch ihren Einsatz hat die Türkei nun Truppen südlich von Afrin stationiert.

Unterstützt wurde die Türkei auch in Idlib von der FSA. Ziel war es, al-Nusra und andere islamistische Gruppen aus der Region zu vertreiben. Als dies nicht gelang, rückte die reguläre syrische Armee mit Unterstützung der russischen Luftwaffe ein. Mit dem Ergebnis, dass in der Region türkische Truppen zusammen mit syrischen Rebellenmilizen gegen die syrischen Regierungstruppen und damit Moskau kämpfen. Anders formuliert, findet dort ein Krieg zwischen Syrien und der Türkei statt, von dem kaum einer spricht.

Lockte Moskau Ankara in eine Falle?

Diese Verquickung der Interessen im Hinterkopf lässt den türkischen Einmarsch nach Afrin noch um einiges irrationaler erscheinen. So forderte beispielsweise am Sonntag der Iran eine umgehende Einstellung der türkischen Angriffe auf kurdische Truppen im Nordwesten Syriens. „Der Iran ist sehr besorgt. Diese Operationen in Afrin könnten verheerende Auswirkungen haben und sollten daher umgehend eingestellt werden“, zitierte am Sonntag AFP den iranischen Außenamtssprecher Bahram Ghassemi.

Stellt sich die Frage, ob die Türkei hier von Russland in eine Falle gelockt wurde.
Denn eins sollte klar sein: Würde die türkische Armee nach Afrin nur etwas mehr als hundert Kilometer weiter nach Osten vordringen, gelänge sie zur syrischen Stadt Manbidsch. Manbidsch wurde von YPG-Milizen zusammen mit US-Marineinfanteristen vom IS befreit. Die YPG sind noch in der Stadt und trotzen weiterhin der türkischen Forderung, diese zu räumen. Auch die USA sind dort weiter präsent, nicht zuletzt um den steigenden Einfluss des Iran in der Region zu bremsen, der alles daransetzt, sich eine Schneise vom Irak über Syrien bis an die Grenze zu Israel zu schlagen. Sollte die Türkei versuchen, nach Afrin auch Manbidsch anzugreifen, könnten die USA nicht weiter tatenlos zuschauen – und Moskau hätte zwei unliebsame Gegenspieler auf dem syrischen Schachbrett gegeneinander in Stellung gebracht.

Unterdessen setzt Frankreich weiter auf die diplomatische Karte. Angesichts der türkischen Militäroperation hat Paris eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats gefordert. Egal wie das weitergeht, ist eines sicher: Der Krieg in Syrien ist in eine neue Phase getreten, die das Potenzial hat, die regionalen und internationalen Akteure in eine direkte Konfrontation zu treiben. Vollends zerrieben dabei würden wohl die Kurden.