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Lust zu lesenMonaden im Schwemmland: „Der andere Ort“ von Rachel Cusk

Lust zu lesen / Monaden im Schwemmland: „Der andere Ort“ von Rachel Cusk
 Grafik: Editpress

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Der neue Roman von Rachel Cusk basiert auf einer realen Begebenheit. Damals lud die steinreiche Mable Dodge Luhan den Schriftsteller D.H. Lawrence nach New Mexico ein. Eine konfliktreiche Begegnung, wie Guy Helminger weiß.

Aber diese Begegnung ist in Rachel Cusks Roman nur ein Ausgangspunkt. Rasch entfernt sich „Der andere Ort“ von den realen Vorbildern, die höchstens die Basis für eine Auseinandersetzung mit aktuellen Problematiken bilden. Es wäre folglich falsch, die Figuren auf eine historische Geschichte zu reduzieren.

LINK Eine Leseprobe aus dem Roman gibt es hier als PDF.

Im Buch der kanadischen Autorin ist L ein Maler, dem M anbietet, auf ihrem Anwesen zu arbeiten. Mit ihm trifft unerwartet die junge Brett ein. Eine Tatsache, die M aufstößt, wollte sie den Künstler doch für sich allein. Denn in dessen Bildern vermutet sie eine dunkle unentdeckte Seite ihrer selbst, die sie Freiheit nennt. Und genau diese hofft sie, mit Hilfe von L und dessen Bildern freizulegen. Tony, ihr Mann, ein Ureinwohner New Mexicos, ist ein großer Schweiger, der sich lieber der Natur widmet. Zu diesen vier gesellen sich angesichts einer grassierenden Pandemie auch noch Justine, Tochter Ms aus erster Ehe, und ihr dandyhafter Freund Kurt. Jeder dieser Menschen lebt in seiner Welt und schafft es nicht, bei den anderen über längere Zeit anzudocken. Und so beginnt ein Reigen platonischer Art, man könnte auch sagen ein Verschieben der Macht-Allianzen.

Rachel Cusk<br />
Der andere Ort<br />
Aus dem Englischen von Eva Bonné<br />
Suhrkamp Verlag 2021<br />
203 S., 23 Euro
Rachel Cusk
Der andere Ort
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Suhrkamp Verlag 2021
203 S., 23 Euro

Diese Geschichte erzählt M einem Freund, sodass wir nur ihre Version kennen und nie wissen, wie es für die anderen war. M steht immer im Mittelpunkt und das meistens als Opfer, obwohl sie es ist, die oft die Dinge heraufbeschwört. Sie erzählt nicht nur, sondern interpretiert auch das Geschehen, analysiert, behauptet, legt fest. War in den früheren Romanen die Erzählerin die Zuhörerin und ließ die anderen aus ihrem Leben berichten, verkehrt die Autorin in „Der andere Ort“ nun dieses Spiel in ihr Gegenteil und lässt M kaum Atem holen.

Dabei ist der narrative Faden noch mehr als in den anderen Romanen vom Nachdenken über die Geschehnisse umgarnt. M hat sozusagen ununterbrochen Erkenntnisse. Manche scheinen banaler Natur zu sein, wenn sie zum Beispiel feststellt, dass das Ich unser aller Gott ist, andere fordern in ihrer Radikalität geradezu den Widerspruch heraus: „Wahre Liebe entsteht aus Freiheit, deswegen frage ich mich, ob sie zwischen Eltern und Kindern überhaupt möglich ist …“ oder: „… bedeutete einen Menschen zu lieben in meinen Augen doch, ihm bereitwillig zu gehorchen …“. Andere wiederum führen automatisch zu einer längeren Beschäftigung mit dem Analyseansatz: „Weil unsere besondere Lebensharmonie auf einem Schema von Routine und Abwechslung basiert, und die Ausübung von Freiheit ist nicht nur diesem Schema unterworfen, sondern auch einer gewissen Disziplin“.

Mit M hat die Autorin eine Figur geschaffen, die zugleich reflexiv und emotional verloren ist und sich doch behauptet. Keineswegs kennen diese Figur oder die Autorin selbst die Wahrheiten unseres heutigen Lebens, wie auf der Buchrückseite zu lesen ist. Vielmehr sind diese Wahrheiten suchende Erklärungsformeln, ein tastender Ansatz, die Welt zu durchdringen und die Kosmetik des Umgangs abzuschminken.

Rachel Cusk hat mit „Der andere Ort“ einen Künstlerroman geschrieben, aber auch einen über Beziehungen, einen übers Älterwerden und zugleich einen Essay über das Geschlechterverhältnis, über das Ausbrechen aus den Zwängen des Alltags, ein dichter Roman, der einem viel Stoff zum Nachdenken gibt.