Hubert Védrine war französischer Außenminister unter Lionel Jospin und verbrachte insgesamt 19 Jahre im engsten Machtzirkel von Frankreichs Politik. Mittlerweile leitet er ein geopolitisches Consulting- Unternehmen. Zum grassierenden Populismus in Europa und dessen Erfolgen hat Védrine seine eigenen Vorstellungen. Ein Gespräch.
Tageblatt: Der Populismus, auch der autoritäre, steht zurzeit hoch im Kurs in Europa. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Hubert Védrine: Der Grad an Populismus entspricht jenem des Scheiterns der politischen Eliten. Wenn diese den Populismus anschließend verdammen, ist das nur noch absurd und der Beweis ihres Scheiterns. Mit Eliten meine ich die Globalisierungselite; Globalisierung ist schließlich nicht nur ein technologisches Phänomen, dahinter steckt ein politischer Wille. Seit 30 Jahren haben wir eine Globalisierung, die ebenso intensiv wie dereguliert und von der Finanzwelt getrieben ist – und diese hat nie Rücksicht genommen darauf, wie zuerst die Arbeiterklasse und dann die Mittelschicht abgehängt wurde. Man hat sich gesagt: Uns doch egal, das sind sowieso Schwachköpfe, die die moderne Welt nicht verstehen. Ein Ergebnis davon ist, dass die USA nun einen Präsidenten namens Trump haben.
Und in der Europäischen Union?
In Europa kommt ein weiterer Faktor hinzu. Es gibt hier einen permanenten Willen zur europäischen Integration. Ursprünglich steckten durchaus edle Beweggründe dahinter. Aber seit langem ist klar, dass nicht jeder da mitkommt oder auch nur mitkommen will. Die Europäer wollen nicht unbedingt jeden Tag mehr und mehr europäische Integration. Das steht zwar in allen EU-Verträgen drin, und die politischen Eliten sind sehr stolz darauf, die normalen Europäer aber nicht unbedingt. Sie sind zwar größtenteils proeuropäisch – und das ist ja auch gut so –, sie entpuppen sich aber selten als militante Kämpfer einer immer weiter voranschreitenden europäischen Integration.
Was müsste die Politik Ihrer Meinung nach denn tun, um diesen Graben zu kitten?
Die politischen Eliten, die Europa seit 20, 30 Jahren aufbauen, wollten nie auf diese Bedürfnisse eingehen. Etwa darauf, dass die Menschen in den Arbeiter- und Mittelschichten eine gewisse Identität behalten wollen. Sie wollen erstens nicht vollkommen in einem Europa aufgehen – sie wollen bleiben, wer sie sind. Zweitens wollen sie eine gewisse Souveränität behalten. Drittens wollen sie mehr Sicherheit. Die europäischen Eliten betrachteten dies aber als verabscheuenswürdig, fast schon als faschistisch. Dabei sind das vollkommen banale Anliegen – auf die es keine zufriedenstellenden Antworten gab. Schlimmer noch, es wurde nicht einmal darüber gesprochen. Es blieb fortwährend bei der gewohnten Tonlage der Proeuropäer, das Souveränitätsdenken zu verurteilen.
Was ist denn so schlimm an der Souveränität?
Nichts! Es ist ein absoluter Schwachsinn der politischen Eliten, den Souveränitätsgedanken ins Lächerliche zu ziehen! Souveränität ist schließlich etwas Großartiges: Menschen kämpften während Jahrhunderten für Souveränität. Vor der Souveränität gab es Stammesführer, Könige, Kaiserreiche – alles, im Gegensatz zur Souveränität, sehr autoritäre Systeme. Und plötzlich kommen sie und sagen, wir müssten unsere Souveränität hinter uns lassen? Dabei hätte man den Menschen ja erklären können, dass, abgesehen von einigen staatlichen Hochsicherheitsbereichen wie dem Militär, Souveränität auch gemeinsam mit anderen möglich ist. Pädagogisch gesehen ist das, freundlich umschrieben, nicht sehr schlau. Schauen Sie nach Frankreich zur Zeit des Maastricht-Vertrages: Während alle Eliten, die ganze intellektuelle Öffentlichkeit inklusive, sich für ein Ja aussprachen, lag der Abstand zwischen dem Ja und dem Nein bei gerade mal zwei Prozentpunkten. Und was war die Reaktion? Man hat sich gesagt, uns doch egal, die verstehen halt nichts. Es ist diese Verachtung, die den Menschen damals von den politischen Eliten entgegengebracht wurde, die besonders katastrophal war und die Wut erst richtig entfacht hat.
Ein weiteres Feld, auf dem die Populisten auftrumpfen, sind die Migrationsfragen.
Richtig, die nächste Verwerfung zwischen Eliten und Bevölkerung gab es bei der Bewältigung der Migrationsbewegungen. In Europa gab es zuerst eine Phase, die durch großen Optimismus geprägt war, vor allem nach dem Ende der Sowjetunion. Ich nenne sie die „Bisous ours“-Zeit, als man glaubte, die internationale Gemeinschaft würde schon alles zum Guten lenken. Alles war schön, alles war gut – aber niemand kam auf die Idee, dass man die Außengrenzen vielleicht schützen müsste. Man hat sich gesagt, wir bauen den Schengenraum aus und dann, Schritt für Schritt, werden wir einen fabelhaften Einfluss auf die ganze Welt haben. Doch dann nehmen die Migrationsbewegungen nach Europa nach und nach zu. Hinzu kommt die menschliche Katastrophe derjenigen, die um Asyl fragen müssen, um ihr Leben zu retten. Und was macht Europa? Es bleibt vollkommen gelähmt von seinen guten Intentionen. Doch ging es dabei nicht um eine theoretische Debatte – es ging um Zahlen.
Aber die meisten Europäer sind doch eher gastfreundlich, oder?
Ja schon, wenn es jedoch zu einer Masseneinwanderung kommt, ändert das alles. Mit dem Blick zurück sieht man es gut: Wenn die Einwanderung – und ich spreche hier nicht vom Asyl – nicht sehr stark ist, sich über einen längeren Zeitraum verteilt und wenn es sich um Menschen handelt, deren Lebensart sich nicht zu sehr von unserer unterscheidet, gibt es kein Problem. Wenn aber sehr viele in sehr kurzer Zeit kommen, dazu noch viele Muslime, deren Glaube sich in Europa dann oftmals noch verfestigt, ist es klar, dass das vielen Angst einjagen kann. Statt sich diesem Thema anzunehmen, hat die europäische Elite einfach die Augen davor verschlossen. Während Jahren wurde nicht darüber gesprochen. All das spielt eine Rolle – beim Brexit, den hohen Stimmenanteilen von Parteien wie dem Front national usw.
Was Sie als Fehler sehen, haben Sie aufgezählt. Welche Auswege sehen Sie denn?
Der Populismus, den es immer geben wird, der aber nicht so hoch sein sollte, ist nur so hoch wegen dieser Reihe an Fehlern der europäischen Politelite. Also muss hier nachgebessert werden. Wenn wir wieder ein Schengen wollen, das richtig funktioniert, brauchen wir eine richtige Kontrolle an den Außengrenzen, einerseits der Asylbewerber, denen sehr schnell geantwortet werden muss, ob sie angenommen werden. Man muss sich gut und menschlich um diese Menschen kümmern. Andererseits gibt es die Migrationsbewegungen, die es immer geben wird, und das nicht nur in Europa. Diese muss man verwalten, am besten zusammen mit den Transitländern. Wenn wir das schaffen und wenn wir es schaffen, für die jeweiligen Berufe in Europa Bedarfsquoten herauszuarbeiten für legale Migranten, dann kommen wir in einen Bereich, den wir handhaben können, der geregelt ist. Das ist so ungemein wichtig, da die öffentliche Meinung in Europa mittlerweile davon ausgeht, dass nichts geregelt ist, dass wir die Kontrolle verloren haben. Das wäre ein Weg, um den Populismus in den Griff zu bekommen.
Zuletzt von Hubert Védrine erschienen ist der Essay „Sauver l’Europe!“, herausgegeben von Liana Levi.
Ach der Herr hat so recht ,was politische Eliten und Populismus angeht.Nur scheinen die heutigen politischen Eliten nicht lernfähig zusein.