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Lust zu lesenHaben Sie mal sechs Beine gehabt?

Lust zu lesen / Haben Sie mal sechs Beine gehabt?
Ian McEwan Foto: Annalena McAfee

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Als das Vereinigte Königreich am 31. Januar 2020 aus der EU austrat, war Ian McEwans Satire bereits einige Monate auf dem Büchermarkt erhältlich. Der Brexit war in seinem ganzen Ablauf eine Groteske. Nicht weniger grotesk geht es beim englischen Autor zu, allerdings wesentlich unterhaltsamer, intelligenter und klarer. Guy Helminger hat den vergnüglichen Roman gelesen.

Eine Kakerlake wacht eines Morgens auf und liegt in Menschengestalt in einem Bett. Nachdem sie sich mit ihren neuen, riesigen Körperteilen angefreundet hat, erinnert sie sich, wie sie vorher, noch als Schabe, die Straße überquert hatte, um an den Stiefeln eines wachhabenden Polizisten vorbei in die Downing Street 10 zu gelangen. Im nächsten Moment steht die persönliche Assistentin im Schlafzimmer und bittet den Premier, sich zu sputen, das Kabinett warte bereits. Ian McEwan schreibt mit „Die Kakerlake“ nicht einfach eine umgekehrte Kafka-Geschichte, auch wenn der Premier in Anlehnung an Gregor Samsa aus der „Verwandlung“ Jim Sams heißt, vielmehr ist sein kurzer Roman eine spitzzüngige Reflexion voller Witz und Ironie zum aktuellen Geschehen in Großbritannien.

War der ursprüngliche Premier jemand, der Entscheidungen verschob und jedem alles versprach, dabei nicht zu Potte kam, ist die verwandelte Version ein skrupelloser Politiker, der sich nicht scheut, Krisen herbeizuführen, wenn sie seinen Interessen nützen. Regierungsmitglieder werden entlassen, der Außenminister wird mit falschen Beschuldigungen zum Rücktritt gezwungen – alles, um das Reversalismus-Gesetz durchzuboxen, ein Gesetz, das die Umkehrung des Geldflusses bestimmt. Am Monatsende muss der Angestellte, der Arbeiter für die Stunden bezahlen, die er in der Firma gearbeitet hat. Um sich diese Arbeit leisten zu können, muss er fleißig einkaufen, denn mit jeder Ware, die er kauft, fließt Geld in seine Taschen. Vielmehr aufs Konto, denn es wird eine bargeldlose Gesellschaft angestrebt. Auch der Präsident der USA, Archie Tupper, findet Gefallen an diesem Rückdreher-Gedanken, redet aber viel und wirr, ohne das Gesetz zu übernehmen. McEwan zeichnet satirische Figuren, bei denen der Leser unschwer das reale Vorbild erkennen kann. Das Tragische dabei ist, dass man im Umkehrschluss immer wieder denken muss, was ist diesen real existierenden Herren nur in Leib und Kopf gekrochen, was motiviert ihr aberwitziges Handeln?

Im Roman ist der Plan der Kakerlake wohldurchdacht. Es ist kein Zufall, dass sie sich den Körper des Premiers angeeignet hat. Je mehr die Menschen sich zerstören und in Armut leben, ja, im Dreck vegetieren, desto größer ist das Paradies für die Kakerlaken. Deshalb ist der Premier auch nicht allein. Fast alle Kabinettsmitglieder sind auf diese Weise „unterwandert“. Jim Sams braucht nur in die Augen der Politiker zu schauen und erkennt, wer vom gleichen Stoff ist. Als er am Telefon mit Archie Tupper spricht, sieht er diesen nicht, ahnt aber die Verwandtschaft und fragt den Präsidenten: Haben Sie mal sechs Beine gehabt?

„Die Kakerlake“ ist ein äußerst kurzweiliges Buch, eine gelungene literarisch dichte Fingerübung des großen Ian McEwan.

Infos

Ian McEwan: „Die Kakerlake“. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes-Verlag, Zürich 2019. 144 S., 19 Euro.