Eine auffallend hübsche junge Frau, die auf den zweiten Blick mit unstillbarem Wissensdurst und einer geradezu rabiaten Eigensinnigkeit zu faszinieren wusste. Plötzlich war sie zugegen, in den legendenumrankten literarischen Zirkeln Wiens vorm 1. Weltkrieg. Unklar bleibt, wer diese Bibiana Amon, geborene Marie Liliana Brandstetter (1892-1966), in den Kreis um Ernst Polak u.a. einführte, und wie sie es verstand, in dieser Ansammlung an talentierten Schriftstellerinnen und Schriftstellern, genialen Dilettanten und haltlosen Neidern, zu bestehen.
Aus bitterarmen Verhältnissen stammend und immer wieder in prekäre Lebenssituationen zurückfallend, tritt die Schönheit zuerst als Modell für einige von Egon Schieles Bildern in Erscheinung, um im Folgenden als literarische Figur unter verschiedenen Namen in Romanen von Robert Musil, Karl Tschuppk oder Franz Werfel aufzutauchen. In den Lebenserinnerungen der Schauspielerin Tilla Durieux wird sie als Begleiterin des kränkelnden Schriftstellers Peter Altenberg 1913 in Venedig erwähnt. Der Tonfall, in dem man sich über sie, bzw. ihre niedere Herkunft auslässt, könnte als humoristische Einlage durchgehen. Bei genauerer Betrachtung wird aber klar, dass sie als bloße Witzfigur herhalten muss, die „Eiskaffee, Kuchen, Schokolade, wieder Kuchen und wieder Eiskaffee wahllos durcheinander verschlang“ und den Markusplatz als „langweiligen Hof“ schmähte.
Walter Schübler hat diese herabwürdigende Anekdote ausgegraben und mit einer am Ende doch überraschend großen Zahl an weiteren Einzelheiten aus dem harten Leben der Bibiana Amon als Randfigur einiger mal mehr, mal weniger ruhmreicher Künstlerexistenzen zu einer Erzählung angeordnet, in deren Zentrum Passagen aus Amons Roman „Barrières“ stehen, der 1930 erstmals in Paris erschienen ist und mehrere Auflagen erfuhr.
Weil das Originalmanuskript in deutscher Sprache verschollen ist und sich eine Rückübersetzung aus einer Transkription von selbst verbietet, wagte Schübler für sein Buch „Bibiana Amon. Eine Spurensuche“ folgenden Kunstgriff: Aufzeichnungen aus Melderegistern, Briefen und Romanen etc. werden mit für das Projekt nun doch rückübersetzten Barrière-Auszügen abgeglichen, wobei überall dort, wo empirische Lücken im Lebenslauf klaffen, ihr autobiografisch eingefärbter Roman einspringen muss. Zur Ehrenrettung des Autors wie seines Buches muss man konstatieren, dass an keiner Stelle der Anspruch erhoben wird, man hätte es hier mit etwas anderem als einem Versuch zu tun, Spuren zu sichern und biografisch Ungeklärtes zu kennzeichnen. Das geht so weit, dass Schübler für weitere Forschungsansätze sogar die Notare bzw. Kanzleien mitsamt E-Mail-Adressen nennt, bei denen die Testamente von Bibiana Amon und deren Erbe André Louis aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen bis 2041 unter Verschluss liegen.
Fragt man nun, weshalb nach diesem Buch noch weitere Recherchen in Sachen Bibiana Amon notwendig sein sollten, schließlich gibt es Biografien von zeitgeschichtlich zweifellos bedeutenderen Persönlichkeiten wie Sand am Meer, so könnte man einwenden, dass über Amons illusionslose Briefe aus der Zeit, als sie in Berlin versuchte, Karriere als Schauspielerin zu machen, dem neuerdings wieder so modisch-verklärten Blick auf die 1920er Jahre effektiv entgegengewirkt werden kann. Literarisch bedeutender sind darüber hinaus ihre Briefe in Bezug auf die eingangs schon erwähnte Literaturcafé-Szene der Vorkriegszeit bzw. kurz nach dem 1. Weltkrieg. Denn auch diesbezüglich zeitigt Bibiana Amons Nachlass den ungeschönten Blick einer enttäuschten Idealistin auf einen Kulturbetrieb, dessen knallharte Funktionsweise liebend gerne hinter späterhin mindestens namhaften bis weltberühmten Schriftsteller- und Künstlerpersönlichkeiten versteckt wird. Mehr Wissen über Bibiana Amon wirkt also in gleich mehrfacher Hinsicht erhellend!
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