Wo genau Massimo Carlotto seinen neuen Roman „Und es kommt ein neuer Winter“ angesiedelt hat, erfährt seine Leserschaft nur ungefähr: in einem Tal in den Dolomiten, mit nur einer Zufahrt, einhundertfünfzig Kilometer von Cortina entfernt. Aber man gewinnt bei der Lektüre den Eindruck, dass sowohl Ort wie Handlung beinahe austauschbar – weil zuallererst symptomatisch – sein könnten! Üble Nachrede, Neid, Eheleute, die sich hintergehen und Rachepläne schmieden, Polizeikräfte, die sich um nichts weniger als um Recht und Ordnung scheren; über alles scheint sich eine Stimmung gelegt zu haben, in der die Boshaftigkeit der bestimmende Faktor ist. Dass offiziell alles vor Rechtschaffenheit nur so trieft, macht die Sache nur noch schlimmer. Als Carlotto dann zur Mitte seiner Geschichte mit einer wirklich überraschenden Wendung aufwartet, die seinen Roman in eine völlig andere Richtung lenkt, scheint das Sinnbildhafte seiner motivischen Anordnung infrage gestellt und ein ausgeklügelter Thriller das eigentliche Ziel. Doch beides ist möglich, ein spannender Plot, der auf eine tiefere oder allgemeinere Bedeutung verweist, die, bezogen auf italienische Kriminalliteratur, auf folgenden Nenner verkürzt werden könnte: Man braucht keine Mafia, um Straftaten in organisierter Form zu begehen. An einer Stelle umschreibt der Autor das archaische Ineinandergreifen verbrecherischer Handlungen als „Weisheit des Dorfes“, um den Status quo aufrechtzuerhalten bzw. die Ehre der alteingesessenen Familien wiederherzustellen.
Mit „Und es kommt ein neuer Winter“ ist Massimo Carlotto ein ebenso abgründiger wie hervorragender Roman gelungen.
(thk)
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