Gertrude Steins skandalös-unorthodoxe Ansichten zur Funktion und Wirkungsweise von Kunst allgemein und Literatur im Speziellen finden sich natürlich auch in ihrer sogenannten „Autobiografie von Alice B. Toklas“, nur halt in „verwässerter“ bzw. „popularisierter“ Form, wie Kritiker meinten. Dass sie trotzdem sich und ihren Thesen treu bleiben konnte, hat damit zu tun, dass Gertrude Stein das Buch aus der Perspektive ihrer langjährigen Lebensbegleiterin, noch dazu in Ich-Form verfasste. Aus Gertrude spricht sozusagen Alice, allerdings in jenen mehr auf Reim denn Inhalt achtenden Sätzen, mit denen Gertrude Stein seit den 1910er Jahren erst einem kleinen Kreis – und 20 Jahre später dann einer breiten Öffentlichkeit bekannt werden sollte. Anlässlich des 75. Todestages der Schriftstellerin im Juni hat der Verlag Ebersbach und Simon die „Autobiografie von Alice B. Toklas“ in einer Neuübersetzung aufgelegt, die endlich Gertrude Steins eigenwilligem Schreibstil versucht, Rechnung zu tragen. Sie selber meinte sinngemäß, dass nur Leute, die nicht wissen, wann man beim Lesen Atem holen soll, Kommata und weitere Satzzeichen bräuchten. Entsprechend krautig erscheinen erst einmal die Sätze, und man muss unbedingt dem Verlag dafür, dass er dieses Experiment auch in der Übersetzung wagte, dankbar sein.
Inhaltlich folgt das Buch dem seltsamen Doppler-Effekt von Schriftstellerin mit Freundin (die offiziell und über Jahrzehnte als „Sekretärin“ fungierte), indem es sozusagen mit dem Auftauchen der 30-jährigen Alice im Umfeld der drei Jahre älteren Gertrude in Paris um 1907 beginnt, um in immer neu ansetzenden Schleifen und Wiederholungen etwas einzukreisen, das wir heute ganz klar als Liebesbeziehung definieren können. Aus dieser Aus-zwei-mach-eins-Biografie spricht aber keineswegs die Liberalität der damaligen französischen wie etwas später der amerikanischen Gesellschaft, sondern vielmehr eine Art Auflehnung gegen die geringschätzige Bedeutung, die lesbischen Beziehungen beigemessen wurde. Bezeichnend hierfür ist, dass in dem Buch von Gertrude Steins Bruder Leo kaum die Rede ist. Beide hatten sich als wohlhabende amerikanische Kunstmäzene in Paris etabliert und gemeinsam den berühmten Salon in der 27, rue de Fleurus ins Leben gerufen. Doch weil Leo sich nicht mit der gleichgeschlechtlichen Beziehung seiner Schwester abfinden konnte, trennten sich ihre Wege. Gertrude führte den Salon mit Alice weiter und sollte sich nie wieder mit ihrem Bruder versöhnen. Ein weiteres Zerwürfnis, das zwischen Gertrude Stein und Ernest Hemingway nämlich, wird in dem Buch zumindest andeutungsweise behandelt. Beide lernten sich in den frühen 1920ern kennen, Stein förderte sein Talent nach Leibeskräften bis zu jenem Zeitpunkt, als Hemingway einem Konkurrenten, dem Schriftsteller Sherwood Anderson, unterstellte, er würde „nur abschreiben“. Frei nach einer ihrer vielen apodiktischen Äußerungen, wonach Künstler keine Kritik bräuchten, sondern Anerkennung, stellte sich Gertrude Stein an die Seite des gescholtenen Anderson, was uns zu einem weiteren und möglicherweise auch zentralen Punkt bringt, den die „Autobiografie von Alice B. Toklas“ vermittelt: Dass in Sachen sozialer Kompetenz Gertrude Stein wohl kaum jemand das Wasser reichen konnte! Ihr Ruhm als Gesellschafterin und Schriftstellerin scheint auf ihrer Fähigkeit zu basieren, Freundschaften nicht nur mit zentralen Figuren der ästhetischen Moderne wie Pablo Picasso, Henri Matisse oder Juan Gris zu schließen, sondern auch mit Dutzenden weiteren Kunstschaffenden, Verlegern und Mäzenen.
Gertrude Stein
Autobiografie von Alice B. Toklas. Verlag Ebersbach und Simon, Berlin 2021. 336 S., 24 €
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