Seit Gustavo Gimeno an der Spitze des OPL steht, tourt das philharmonische Orchester regelmäßig durch die Heimat des Chefdirigenten. Wer bei Reisezielen wie Madrid, Valencia oder San Sebastian allerdings an Sangria, Tapas und Sonne denkt, liegt zwar wohl richtig – für die Musiker des OPL stellt das spanische Dekor aber allenfalls eine Kulisse dar, an der man vorbeigleitet, um von einer Konzerthalle zur nächsten zu gelangen. Das Tageblatt war zwei Tage mit dem OPL unterwegs, um einen Blick hinter die Kulissen des Alltags der Musiker, Techniker und Organisatoren zu werfen.
Rasende Zeit
Wer hat sich nicht schon mal über eine Band aufgeregt, die bei aller Begeisterung der Menge nicht so recht zu wissen schien, in welcher Metropole sie gerade auftrat. Begleitet man Musiker – in diesem Fall das OPL – auf einer Tournee, dann merkt man allerdings schnell, wie die verschiedenen Spielorte zu einer breiigen Masse verschwimmen – und wie schwer es mit der Zeit wohl werden kann, eine klare Übersicht zu behalten.
Denn Zeit für Sightseeing bleibt den Musikern so gut wie keine, von den Städten sieht man hauptsächlich die Konzerthallen, das Innere diverser Busse und vielleicht – glücklicherweise sind wir in Spanien und nicht im spießigen Luxemburg, wo die Restaurants unter der Woche gerne ihre Türen schon um 21.30 Uhr schließen – nach einem langen Konzert noch die dekorativen Schinken eines spanischen Restaurants oder den Tresen einer Kneipe.
So stelle ich während meiner zwei Tage in der Begleitung des OPL vor allem fest, wie streng und akribisch eine solche Tour geplant werden muss.
Am Dienstagmorgen zum Beispiel galt es, über 100 Personen mit dem Bus vom Hotel in Madrid zum Bahnhof zu befördern, dort dann die Sicherheitskontrollen – die es in Madrid auch beim Zugfahren gibt – zu bewältigen, in den Zug zu steigen, um sich während der Fahrt dann den neugierigen Fragen zweier Journalisten – des Kollegen Hick vom Wort und meiner Wenigkeit – zu stellen, knapp 90 Minuten und eine Fahrt durch die felsige, sperrige Schönheit der spanischen Landschaft später in zwei bereits wartende Busse zu steigen, schnell im Hotel einzuchecken, nachdem sich die drei Techniker sofort auf den Weg zum „Palau de la Musica“ machen, um dort den Lastwagen mit den Instrumenten leerzuräumen und mit dem Aufbauen zu beginnen, während Philippe Koch, erster Konzertmeister des OPL, jede freie Minute nutzt, um drei avantgardistische Stücke zu proben, die sein Orchester am 24. November aufführen soll.
Dabei muss man bedenken, dass hier zu jeder Zeit über 100 Leute von A nach B gebracht werden müssen – wer schon mal auf einem Festival im Ausland versucht hat, auch nur drei Freunde von einem Konzertzelt zum nächsten auf eine koordinierte Art zu schleppen, weiß, dass das Substantiv Gruppendynamik eine linguistische Mogelpackung ist, ja man vielmehr von Gruppenlethargie reden müsste. Erstaunlich ist deswegen eben auch, wie diszipliniert und dynamisch die OPL-Musiker (im Gegensatz also zu den Festivalkumpels) auf die Befehle von Tour-Managerin Catherine Gaul reagieren. Staus sind dann aber doch nicht ganz zu vermeiden: Im Hotel in Valencia bildet sich schnell eine Warteschlange, weil einer der drei Aufzüge defekt ist und die Bleibe kaum ausgestattet ist, um hundert Musiker mit Gepäck in Windeseile auf die jeweiligen Zimmer zu verteilen.
Stress und Adrenalin gegen die Routine
„Das ewige Hin und Her hat positive und negative Seiten. Einerseits verhindert es, dass wir in Routine verfallen – jeder Abend sieht anders aus, stellt uns vor andere Herausforderungen. So schwankt man ständig zwischen Müdigkeit und Stress – und vermeidet aber auf jeden Fall, in einen Automatismus zu verfallen, der ja droht, wenn man Abend für Abend dieselben Stücke spielt“, erklärt Konzertmeister und Violinist Philippe Koch.
Dirigent Gustavo Gimeno sieht das ähnlich: „Ich schlafe sehr wenig. Das liegt einerseits am Adrenalin, das im Laufe solcher Tourneen ständig durch den Körper schießt. Andererseits erklärt sich dieser Schlafentzug dadurch, dass mein Tag meist vollgepackt ist. Stehe ich nicht auf einer Bühne, treffe ich (wie jetzt) Journalisten, bin zu Rezeptionen eingeladen, probe und rede mit den Musikern.“
Gimeno beschwert sich nicht über all diese Aktivitäten – Schriftsteller Antoine Volodine hat in Bezug auf solche begleitenden Verpflichtungen einmal vom „service après-vente“ seiner Veröffentlichungen gesprochen –, diese bleiben für ihn ohnehin peripher: „Das Herzstück meines Alltags und der Tournee muss stets die Musik bleiben.“
Vilde Frang, die norwegische Solistin, die Beethovens Violinkonzert interpretierte, sieht die straffen Abläufe eher positiv: „Ohne Verschnaufpause von einer Stadt zur nächsten, einer Konzerthalle zur nächsten zu gelangen, hat den Vorteil, dass man nicht riskiert, Sachen zu überdenken. Es entsteht im positiven Sinne eine gesunde, da fördernde Routine.“
Wir sitzen für Interviewzwecke in der geräumigen 1. Klasse, in der Gimeno und die junge Solistin Vilde Frang nach Valencia, übrigens Gimenos Heimatstadt, kutschiert werden. Die Geschwindigkeit, mit der die Landschaft wie eine Filmtapete an uns vorbeifliegt, wirkt wie eine Metapher für das Leben auf der Tournee. Die Ledersessel hingegen verdeutlichen, dass die Welt eines Orchesters klar durchhierarchisiert ist. Erst kommen die Stars, dann das Orchester, dann die Techniker. Doch dazu später mehr.
„Gestern Abend nach dem Konzert in Madrid war ich gegen 1.00 Uhr schlafen. Bis 2.00 Uhr war ich schlaflos, weil ich erst mal runterkommen musste. Und um 7.00 Uhr war ich wieder hellwach. Ein normales Leben ist das nicht. Aber für mich ist das Dirigenten-Dasein kein Beruf, sondern eine Berufung, um die ich mein ganzes Leben gestalte“, unterstreicht Gimeno. Je mehr wir uns seiner Heimatstadt Valencia nähern – wenige Stunden später wird das OPL, wie auch am Vortag in Madrid, in einer prall gefüllten Konzerthalle auftreten – desto mehr nimmt Gimeno die Natur, durch die unser Zug rast, wahr.
„In Spanien zu spielen, hat für mich eine ganz andere Bedeutung, als jetzt zum Beispiel in Wien aufzutreten, da hier nicht nur der künstlerische, sondern auch der emotionale Aspekt mitspielt – die Aufregung und die Vorfreude gesellen sich hier zu den künstlerischen Herausforderungen.“
Auch wird die Ernährung während einer solchen Tournee oftmals ausgeklammert, vergessen oder sie unterliegt verschiedenen Dilemmas. Philippe Koch, am zweiten Tag der Tournee: „Wir waren etwas spät dran. Es blieb nur Zeit, um entweder zu duschen oder ein Sandwich zu ergattern. Ich hab’ mich für die Dusche entschieden.“
Max May, Techniker, einen Tag nach dem Auftritt im „Palau de la Musica“: „In Valencia lief alles relativ stressig. Die Anspielproben haben etwas länger gedauert. Bei sechs Minuten Zeitverlust riskiert alles sehr eng zu werden. Als wir dann kurz vor Mitternacht endlich fertig mit dem Abbauen waren, hatten wir Glück, noch ein Restaurant zu finden, in dem ein gutmütiger Koch uns dann noch schnell was zubereitete. Wäre dies schiefgelaufen – das hätte unsere Energiereserven schneller aufgebraucht und wir wären für den Rest der Tournee wohl schneller erschöpft gewesen.“
Versuch einer Definition des Tourlebens (die vielleicht auch auf das Künstlerleben im Allgemeinen zutrifft): Auf Tournee herrscht eine Umkehrung des Standardverhältnisses zwischen Kultur und Alltagsproblemen. Will heißen: Wird in der Standardsituation eines Otto Normalbürgers das Triumvirat Familie-Beruf-Ernährung stets in den Vordergrund gerückt und die Kultur in den Hintergrund geschoben (auf dem Weg zur Arbeit beleidigt ein Radio-Hit die Hörnerven, abends läuft das Fernsehprogramm oder eine Netflix-Serie auf dem Schirm), so werden auf der Tournee sogar essenzielle biologische Bedürfnisse wie Ernährung zur Nebensache, da sich alles um die Musik, um die Kunst dreht.
Flashback
Am Vortag trafen wir (d.h. die neue Pressesprecherin Tiffany Saska, Philharmonie-Fotograf Alfonso Salgueiro Lora, Wort-Journalist Thierry Hick und der Schreiber dieses Artikels) die Musiker in Madrid während der Anspielproben – nach einem dieser Tage, an denen man Energie und Lebenslust (zusammen mit seinem Gepäck, falls der Flugplan einen Aufenthalt im Pariser Charles-de-Gaulle-Flughafen vorsieht) in diversen Flughäfen lässt.
Gimeno steht vor seinem Orchester, lässt kurz Passagen aus dem Abendprogramm anspielen – um das Gedächtnis aufzufrischen, damit die Musiker sich warmspielen können und der Klang der neuen Halle ins Ohr übergehen kann.
Aber auch, damit man im Zweifelsfall auf technische Details aufmerksam wird – fehlende Notenblätter, ein kaputter Stuhl, eine ungünstige Positionierung. „We need silence“, verkündet Gimeno – die Stille wird zur Bedingungsmöglichkeit, zur weißen Fläche, auf welcher der Klang sich entfalten kann.
In diesem konkreten Falle handelt es sich um Beethovens Violinkonzert und Tschaikowskis Symphonie Nr. 5, am Tag darauf in Valencia wird Tschaikowski gegen Mahler (mit seiner Symphonie Nr. 4) ausgetauscht. Ganz gleich, ob jetzt Beethovens Violinkonzert mit seinen teils verspielten, teils intensiven Geigensoli, die energische Interpretation von Tschaikowski, die phasenweise fast Head-Banging-Potenzial hätte (vielleicht mag ich aber auch nur das Head-Banging zu sehr), oder der elegische, berührende Mahler: An beiden Abenden punktet das OPL mit präzisem Spiel, versteht es jedes Mal, aus den Stücken Tiefe und Interpretationsschichten herauszuarbeiten, auch wenn im Direktvergleich, den wir ja ziehen konnten, die zweite Beethoven-Interpretation in Valencia einen Tick weniger prägnant, weniger präzise war.
Für Gimeno stellt sich ein solch hybrides Programm „wie ein Puzzle“ zusammen – im Laufe von Gesprächen kommen Ideen zusammen. „Einerseits versucht man bewusst, ein kontrastreiches Programm aufzustellen, andererseits möchte man natürlich auch eine qualitative Visitenkarte hinterlassen und versucht, ein Programm mit Kompositionen zusammenzustellen, die das OPL von seiner besten Seite zeigen“, so der Chefdirigent.
Vilde Frang sieht Beethovens Violinkonzert als eine Art Bibel jedes Geigenvirtuosen. „Wenn man jetzt dieses Stück neu interpretieren will, kommt man sich erst mal so vor, als würde man an Beethovens Tür klopfen. Und fühlt sich, nachdem dieser einem geöffnet hätte, als müsste man feststellen, dass man ihm gar nichts zu sagen hat. Das Stück ist wie ein musikalischer Lügendetektor, weil es so transparent ist, dass man sich hinter nichts verstecken kann. Als ich mich daran heranwagte, erschien es mir wie die Mona Lisa der Violinkonzerte. Oder besser noch: wie Mona Lisas Lächeln, das für mich sowohl überdeutlich und klar scheint – und doch enigmatisch bleibt. Ich wollte dieser mysteriösen Offenkundigkeit auf den Grund gehen.“
Ewiges Husten und Shazam
In Madrid konnte man übrigens feststellen, dass gewisse Gegebenheiten universell sind und über die nationalen Eigenheiten hinaus verbinden: So wird auch in den spanischen Konzerthallen zwischen den einzelnen Stücken oder gar in den Pausen zwischen den Sätzen gehustet, was das Zeug hält – Stephan Gehmacher, der Direktor der Philharmonie, und ich kommentieren fast zeitgleich das Phänomen mit „klarer Fall von spanischer Grippe“.
Auch Unhöflichkeit scheint in den internationalen Verhaltenskodex übergegangen zu sein. Schuld ist hier wie so oft das Smartphone. In Madrid möchte eine ältere Dame wohl mit der Beleuchtung der Halle rivalisieren, ihr Handy-Display leuchtet jedenfalls ununterbrochen mit der größtmöglichen Helligkeit durch die Reihen. Als die Solistin Vilde Frang nach ihrer schönen Performance als Zugabe einen Auszug aus Haydns „Kaiserlied“ darbietet, wird mit der „Shazam“-App gar nach dem Namen und Künstler des Stückes gesucht. (Hätte sie mich während des Konzerts nicht so sehr mit ihrem Handy gestört, hätte ich mich auch erbarmt, es ihr zuzuflüstern. Denn Shazam gelang es nicht, Frangs Version mit Haydns Original in Verbindung zu bringen.)
Verbindung
Das Touren verleiht dem Orchester ein menschliches Gesicht. Allein dadurch, dass man viel Zeit zusammen in Flugzeugen und in Zügen verbringt, oft und lange gemeinsam wartet – auf Flughäfen, auf Bahnsteigen oder in den verwinkelten Backstage-Gängen spanischer Konzerthallen – entsteht eine Verbindung zwischen den Musikern, aber auch zu ihrem Chefdirigenten. Letzterer sieht in den Tourneen des OPL auch den wichtigen Prozess einer internationalen Anerkennung, durch die das Orchester an Selbstachtung und Selbstverständnis gewinnt. „Dies hat auch eine positive Auswirkung auf die musikalische Leistung: Wir spüren die Verantwortung, im Ausland einen guten Ruf zu hinterlassen, und stellen mit der Zeit andere Forderungen an uns selbst“, meint Gimeno.
Die Wartezeit verbringen die Musiker mit Proben, dazwischen tauschen sie Anekdoten über andere Chefdirigenten aus – einer, der das falsche Tempo angab, wird ebenso nostalgisch belächelt wie ein anderer, der bei einer Aufnahme vergaß, dass ein Mikrofon über ihm baumelte. Letzteres verewigte dann auch dessen Unzufriedenheit über eine misslungene Passage – eine Unzufriedenheit, die in dem Ausruf „Scheiße“ verdichtet wurde.
Auch für den gebürtigen Spanier Alfonso Salgueiro Lora (ohne dessen Dolmetscherfähigkeiten wir etwas verloren gewesen wären, denn sowohl in Madrid wie in Valencia gilt unseren empirischen Erfahrungen zufolge immer noch das Motto „Du kannst vielleicht kein Spanisch, aber wir beherrschen ganz bestimmt keine andere Sprache“) stärkt eine solche Tournee sein Verhältnis zum Orchester, zu den Technikern, Gustavo Gimeno.
Für die drei Techniker Max May, Klaus Künne und Marc Kessel bedeutet eine solche Tournee ein Zusammenschweißen (im doppelten Sinne des Wortes) ihres Teams. „Wenn man sich nicht blendend versteht, klappt die Zusammenarbeit nicht. Wir sind die Ersten, die kommen, und die Letzten, die gehen. Wir sind die Mädchen für alles, stehen am Ende der Nahrungskette. Aus dieser Gegebenheit – einem gewissen gemeinsamen Tragen der (körperlichen und psychischen) Last, die einem auf einer solchen Tournee auferlegt wird – entstehen Freundschaften“, kommentiert Max May.
Dabei ist die technische Organisation – vom Auspacken des Lastwagens, der im Ausladebereich der Konzerthallen bereits angedockt ist, über das Aufrichten, das Umstellen und Anpassen der Instrumente und Stühle an die jeweiligen Stücke und Proben bis hin zum Abbauen – wesentlich: Die kleinste Fehlplanung kann verheerende Konsequenzen haben.
„Im Tourneestress geht leider auch mal unter, wenn wir einen Tag gute Arbeit geleistet haben“, berichtet May. Wenn dann am Tag danach was schiefläuft – das kann durch zu knappe Zeitbemessung oder unvorhersehbare Schwierigkeiten vor Ort durchaus passieren –, ist die tolle Arbeit vom Vortag wieder Geschichte und man erntet strenge Blicke. Aber das ist Teil des Spiels: Denn letztlich geht es uns ja allen darum, an einem Strang zu ziehen, um tolle Konzerte zu bieten. Und Verständnis für Stresssituationen hat hier eigentlich jeder.“ Muss man eigentlich auch – denn anders wären diese oft 14-stündigen Arbeitstage kaum zu meistern. So hat man sich sein Feierabendbier in der salzigen Hafenluft von Valencia dann aber auch ganz sicher verdient.
Dem OPL bleibt ein letztes Konzert in Oviedo zu spielen, bevor die einwöchige Spanien-Tournee zu Ende geht.
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