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Gehemmte Wunschmaschinen

Gehemmte Wunschmaschinen

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Der Titel – „Tom auf dem Lande“ – klingt wie eines der zahlreichen Kinderbücher, mit denen verschiedene Luxemburger Verlagshäuser ununterbrochen den Markt überschwemmen. Der Schauplatz – eines dieser Dörfer im Nirgendwo, das weit mehr Kühe als Einwohner hat – lässt eine rurale Handlung befürchten, eines dieser neo-naturalistischer Dorfdramen, in denen die Leute sich stundenlang nur anstarren.

Die Handlung – der erfolgreiche Städter Tom reist ins Heimatdorf seines verstorbenen Freundes, um bei dessen Beerdigung eine Rede zu halten, merkt aber schnell, dass dort niemand weiß, dass der Verschiedene schwul war – hätte schnell ins cremige Fettnäpfchen der Stereotypie hineinlatschen können, hätte wegen des Gegensätzlichen im Stück (zurückgebliebenes, verklemmtes, aber ehrliches Bauernvolk versus schnelllebige, emanzipierte, erfüllte Stadtgesellschaft, wo allerdings der Schein vorherrscht) plump ausfallen können.

Mitreißend und einfühlsam

Doch all diese möglichen Vorbelastungen und Fehltritte weichen sehr schnell einem rasanten, physisch mitreißenden, einfühlsam gespielten Stück, das seine tragische Komponente geschickt vor einem Setting aus Mais und Rumba-hörenden Kühen ausrollt.
Das liegt erstmals an der Figurenzeichnung, die hier textlich wunderbar gelungen und szenisch eindrucksvoll gespielt ist: Von der ersten Szene an fesselt einen Tom (Konstantin Rommelfangen), dessen Rolle zwischen dem klassischen „Showing“ und „Telling“ pendelt. Tom ist ständig dabei, das Geschehen mitzuerleben, es zu kommentieren oder vergangene Situationen zu erwähnen, was es Max Claessen, der bereits mit „Möglicherweise gab es einen Zwischenfall“ überzeugen konnte, erlaubt, ein Versatzspiel zwischen dem Gezeigten und dem Geschilderten zu inszenieren, in dem sich die Kluft zwischen Toms Leben und dem archaischen Farmleben breitmachen kann.

Unterdrückte Gefühle

Pitt Simons Fränz (der Bruder des Verstorbenen) ist eine Mischung aus Rüpel, Riesenbaby und psychischem Wrack, das durch unterdrückte Gefühle und Traumata zwischen exzessiver Zuneigung und exzessiver Gewalt pendelt. Fränz ist eine gehemmte „machine désirante“, eine stockende, dampfende Wunschmaschine, die immer wieder zur Wutlokomotive wird. „Ich werde immer hier bleiben“, verkündet er gegen Ende des Stückes, um seine Mutter zu beruhigen, und man weiß nicht recht, ob dies ein Versprechen oder eine Drohung sein soll.

Von der ersten Szene an versucht er, sich Tom und dessen Narrativ anzueignen, indem er ihn in den Würgegriff nimmt und ihm einredet, bloß nichts Falsches zu sagen – und die Lüge der blonden, kettenrauchenden, englischen Freundin seines Bruders weiterzuverbreiten. Was Rommelfangens Figur dazu verleiten wird, seine realen Gefühle in der indirekten Rede zu verhüllen und sie der fiktionalen Ellen – die eigentlich Toms alkoholische Arbeitskollegin Sara (Gintare Parulyte) ist – stellvertretend in den Mund zu legen.

Bequeme Lügennetze

Ganz im Sinne von den Wunschmaschinen von Deleuze sind hier auch die semantischen und semiotischen Referenzen an das Melken – im Laufe des Stückes spritzt, schluckt und sabbert so einiges, Körperflüssigkeiten wie Spucke, Schweiß und Blut deuten immer wieder auf den flüssigen Austausch der unterdrückten Lust hin, die Milch der industriell gemelkten Kühe kontrastiert mit dem weißlichen Samen, die industrielle Fortpflanzung mit der lustvollen Dürre (Fränz fragt Tom, zu was er im Leben denn eigentlich diene, er wäre ja nicht Teil des Fortpflanzungsprozesses, seine Existenz damit eigentlich sinnlos).
Des Weiteren punktet der Text mit seiner Mischung aus teils poetischen, teils sehr rauen Passagen, die das zentrale Thema der unmöglichen Ehrlichkeit und des doch so leichten Lügennetzes, das einen in unangenehmen Situationen immer wieder bequem auffängt, umreißen, indem sie redundante Textpassagen in andere Kontexte einstricken, so dass die semantischen Verschiebungen immer wieder das binäre Pärchen Rural/Urban aufbrechen und dem Stück vielschichtige Deutungsebenen verleihen.

Emotionsausbrüche

Auf dem Dorf wird gelogen, damit man einem normativen Gesellschaftsverständnis entspricht – Fränz ist verklemmt, kriegt seine Emotionsausbrüche nicht in den Griff, kompensiert seine unterdrückten Begierden mit krassen Gewaltausbrüchen, in denen auf obszöne Art und Weise homoerotische SM-Spielchen (mitsamt Fesseln und „Dorftrottel-goes-Cowboy“-Verkörperung) jede Sekunde in reale Gewalt umschlagen können.
Die Vertreter des Stadtlebens scheinen genauso von Hypokrisie und Verrat geplagt, die Leichtigkeit ihrer enthemmten Beschaffenheit endigt im Sumpf eines gekünstelten Milieus, in dem emotionale Lügengerüste die Norm sind.

In der Agentur sucht Tom nach Synonymen, hat sich darin perfektioniert, Gegenstücke zu suchen, „nach etwas, was wie die Sache ist, aber nicht die Sache ist“. In diesem endlosen, horizontalen Spiel der austauschbaren Wörter – und Gefühle – gibt es kein Original, nichts Authentisches.
Letztlich schweben alle Figuren um den großen (und passenderweise namenlosen) Unbekannten des Stückes: Der verstorbene Freund, Sohn, Bruder und Liebhaber wird zur Projektionsfläche all dieser Wünsche und Begierden; jeder denkt, er habe ihn besser gekannt, letztlich gelang es aber niemanden, die Essenz dieses Menschen festzuhalten – Toms Geliebter ist wie diese endlose Synonymkette, er hüpft von einer Projizierung zur nächsten.

Rurale, zurückgebliebene Welt

Die semantische Nachbarschaft des Stückes, sein textliches Referenzraster, lässt sich relativ leicht bestimmen: Die Beschreibung einer ruralen, zurückgebliebenen Welt fernab jener gesellschaftlicher Entwicklungen, in der sich die Leute mit Prügeleien und alkoholischen Eskapaden über die Langeweile und die Einsamkeit hinwegtrösten, erinnert an Dimitri Verhulsts „Die Beschissenheit der Dinge“(1), die Scheinwelt, die man für die Mutter (ausgezeichnet: Christiane Motter) mithilfe der schematischer Figur einer erfundenen Freundin aufbaut, damit diese die Kenntnislücken im Leben ihres verstorbenen Sohnes mit fiktionalen Bruchteilen ausmalen kann, an „Good bye Lenin!“, die erbarmungslose Zärtlichkeit für die Tierwelt an Jean-Baptiste Del Amos „Règne animal“ – und all diese Referenzen verdichten sich in „En finir avec Eddy Bellegueule“ von Edouard Louis(2), das gleichermaßen eine Coming-out-Story vor einem wenig toleranten, trostlosen Dorfmilieu erzählt.

Gutes Bühnenbild

Äußerst gelungen ist außerdem das Bühnenbild von Mirjam Benkner: Das ganze Geschehen wird in einer Art Trichter, einem weißen, milchigen, schrägen Tunnel festgehalten, an dessen Ende wir wie durch ein Kaleidoskop die durch die Perspektive entstellte, eigentlich aber naturalistische Szenerie eines Küchentisches sehen, auf dem die Mikrowelle als retromodernes Kernstück tront und den naiven Einbruch des Zeitgenössischen parodiert.

Die Bühnengestaltung ermöglicht es Claessen, eine Reihe von synchronen Tableaus, wie er sie am Ende vom (leider misslungenen) „Pura Vida“ auch schon versucht hatte, zu zeichnen, die in ihren parallelen Montagen ein ständiges Überlagern der Innen- und Außenwelten bedeuten. Diese überlappenden, etwas schiefen Parallelmontagen manifestieren sich auch in der Musik, die einen bedrohlichen Schleier über das Geschehen legt – und die manchmal bloße extradiegetische Kommentarform annimmt, manchmal aber auch aus der Ferne der Fiktionswelt tost. So denkt man anfänglich, das befremdende Rumba-Stück wäre lediglich Unterstreichung der beklemmenden Stimmung, ehe sich herausstellt, dass sie aus dem Stall kommt, wo Fränz seinen Streichprozess musikalisch untermalt. Jedes Element der Inszenierung schreit: „Something is not quite right.“

Harte Kost

Und auch wenn das Stück gegen Ende zu sehr von Fränz’ etwas redundanten Wutausbrüchen geprägt ist und der Bruch, den die Figur Saras mit sich bringt, noch besser getimet sein könnte, gelingt es „Tom auf dem Lande“, an sich sehr harte Koste auf eine brutal unterhaltsame Art und Weise zu vermitteln – das Lachen steht hier ständig auf der Kippe, droht, so sauer aufzustoßen wie die Butter, die Crème fraîche und die Mikrowellenforelle, die im Stück verzehrt werden – und die Rückkehr des Unterdrückten verdichten.

(1) „Die einzige Busstation hier ist ein Schild vor der Kneipe“, gibt Sara zu bemerken.
(2) Edouard Louis wird am 12. Dezember im Institut Pierre Werner im Rahmen einer Lesung und eines Gespräches in Luxemburg sein.

Vorstellung: Kapuzinertheater, Dienstag, 28. November 2017