Rausgehen und runterkommen: Ein Aufenthalt in der Natur reduziert Stress. Amerikanische Forscher der Ann-Arbor-Universität in Michigan haben dies jetzt wissenschaftlich belegt. In dem im „Frontiers in Psychology“ erschienenen Artikel sprechen sie sogar von der „Naturpille“. Marieke Kremers (45) kommt ohne Wissenschaft aus. Sie nutzt das Wissen, ist Naturcoachin und bietet „Waldbaden“ an.
Marieke Kremers steht an einem kleinen Weg im Wald von Burglinster. Vor ihr liegt ein großer Ast, den sie quer auf den Boden gelegt hat. Sie nennt die Improvisation die „Office“-Tür, allerdings nicht ins Büro, sondern in den Wald. Nach einem großen Schritt darüber ist die Sinfonie der Vögel zu hören, Äste wiegen sich im Wind, das Sonnenlicht treibt Schattenspiele auf dem Boden. Den Augen und Ohren der Naturcoachin entgeht nichts. Immer wieder fordert sie schweigende Aufmerksamkeit, lädt zum Innehalten ein. Früher oder später gerät die Entdeckungsreise im Wald zur inneren Einkehr. „Die Natur verbindet die Menschen wieder mit sich selbst“, sagt Kremers, „das haben viele heute verloren.“
Das deckt sich mit den Ergebnissen der Ann-Arbor-Forscher. Sie haben in der im April veröffentlichen Studie mit Messungen nachgewiesen, das schon 20 Minuten Aufenthalt im Wald den Spiegel des Stresshormons Cortisol im Blut deutlich senken. Dauerhaft zu viel davon im Blut verursacht Herz-Kreislauf-Störungen, schwächt das Immunsystem und fördert Depressionen. Erste Etappe ist ein kleiner, natürlicher Balkon aus Waldboden hoch über der Gemeinde mit dem berühmten Sternerestaurant.
Der Blick mit einem Auge durch die kleine Papprolle gibt einen winzigen Ausschnitt der fantastischen Aussicht frei. „Ich will den Blickwinkel verändern“, sagt Kremers, „der Mensch ist bequem und hat sich in seiner Komfortzone eingerichtet.“ Zu der gehören mehr Besitz und mehr Konsum als nötig. „Wir haben immer Angst, zu kurz zu kommen, weswegen wir von allem mehr wollen und es muss besser sein als das Vorherige“, sagt die Naturcoachin. Also weg mit dem angedeuteten „Fernrohr“ und die Weite der Landschaft im 180-Grad-Winkel genießen.
Kremers’ Klienten stecken oft im „Papprohrblick“ fest und brauchen eine neue Perspektive auf ihr Leben. Andere heften den Blick ständig auf den Boden und verengen sich damit selbst die Sicht. „Das ist ganz schlecht für das Gleichgewicht“, sagt Kremers. Und eine Perspektive wie diese bringt keine Lösungen. „Diese Muster sind oft sehr festgefahren“, sagt Kremers, „es ist sehr schwer, sie zu durchbrechen.“
Verzicht auf Internet, Smartphone und Co.
Permanenter Handykontakt genauso dauerhafte Impulse durch Informationen und durch das Tragen des Handys am Körper zusätzlich ein Magnetfeld um sich herum sind Lebensgewohnheiten, die hinzukommen. Das haben auch die Forscher der Ann-Arbor-Universität berücksichtigt. Sie rieten ihren 36 Probanden, bei den regelmäßigen Aufenthalten in der Natur über die Dauer von acht Wochen auf Social Media, Internet und Handygebrauch zu verzichten
„Permanente Erreichbarkeit und viel zu viel Hamsterrad, wir leben in einer Leistungsgesellschaft mit sehr viel Druck“, bestätigt Kremers. Manche Menschen halten dem nicht stand. Sie brechen zusammen, weil sie sich nicht mehr entspannen können, permanent in Bewegung sind und glauben, etwas tun zu müssen. Burn-out heißt die Diagnose.
Im Schlossgarten von Burglinster fristet der Gundermann ein Dasein als Mauerblümchen. Dabei enthält die Pflanze mit den kleinen, violetten Blüten viel Vitamin C und wirkt vor allem bei Entzündungen im Rachenbereich schleimlösend. An der gleichnamigen Schule in Befort hat Marieke Kremers ihre Ausbildung zur Naturcoachin gemacht. Sie absolvierte sie vor eineinhalb Jahren nach dem eigenen Burn-out, der Druck von außen und der selbst auferlegte Leistungsdruck waren zu groß.
Ein anderer Blick auf das Leben
„Mein Ziel als Naturcoachin ist es nicht, den Menschen zu predigen, zwei- bis dreimal die Woche in den Wald zu gehen“, sagt sie, „sondern einen neuen Blick auf sich selbst zu finden.“ Das gilt für die Personen, die ihr Angebot einzeln nutzen.
Unternehmen profitieren mit ihren Angestellten genauso vom „Waldbaden“. „Es bietet Mitarbeitern die Chance, ihre Rolle im Betrieb zu überdenken oder andere Strategien zu entwickeln“, sagt Kremers.
Die „Naturpille“ erfährt nicht nur wissenschaftlich gerade einen Hype. Bücher, Seminare und Coachangebote sprießen in Hülle und Fülle aus dem Boden, wie die Treffer einer Suchmaschinenabfrage zeigen. „Shinrin Yoku“, was übersetzt „Waldbaden“ heißt, wurde in den 80er Jahren in Japan geprägt. Das Ministerium für Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei wollte damit 1982 die Einwohner dazu bewegen, mehr rauszugehen. „Sie haben festgestellt, dass die Menschen in den Städten nicht mehr klarkommen“, erklärt Kremers.
Auf diesen Kontext berufen sich auch die amerikanischen Wissenschaftler in der neuesten Studie und hieven sie ins 21. Jahrhundert. Wachsende Urbanisierung und Digitalisierung sowie steigende Kosten der Gesundheitssysteme waren vor 30 Jahren noch relativ unbekannt. In Japan ist die „Naturpille“ schon lange Teil des Gesundheitssystems.
Löwenzahnsirup
Löwenzahnblüten an einem sonnigen Tag sammeln. Alles Grün abzupfen, nicht waschen, sondern nur schütteln. Sonst gehen die wertvollen Blütenpollen verloren. Anschließend kommen die Blüten in einen Topf und werden leicht mit Wasser bedeckt. Eine unbehandelte Zitrone in Scheiben schneiden und beides langsam aufkochen. Rund 10 Minuten auf mittlerer Stufe köcheln lassen und von der Herdplatte nehmen. Über Nacht die Blüten und die Zitronen ziehen lassen. Abfüllen und fertig.
Zur Person
Marieke Kremers ist 1973 in Utrecht (NL) geboren und lebt seit 13 Jahren in Luxemburg. Sie hat Wildlife-Management in Groningen (NL) studiert. Sie startet ihre berufliche Laufbahn im Management einer Projektentwicklungsgesellschaft im Transportwesen. Anschließend arbeitet sie als Teamleiterin in der Kreditabteilung einer Bank. Nach dem Umzug nach Luxemburg übernimmt sie den Direktionsposten bei Greenpeace Luxemburg. Sie ist zertifizierte Life- und Naturcoachin und Mitglied des luxemburgischen Nachhaltigkeitsrats (CSDD). Ihre zwei Kinder sind inzwischen acht und zehn Jahre alt.
www.naturcoach.org
Lektüre:
- „Shinrin Yoku – Heilsames Waldbaden: Die japanische Therapie für innere Ruhe, erholsamen Schlaf und ein starkes Immunsystem“, Yoshifumi Miyazaki, 2018, ISBN: 9783424153477
- „Das kleine Buch vom Waldbaden“, Bettina Lemke, 2018, ISBN: 9783958031661
- „Der Biophilia-Effekt, Heilung aus dem Wald“, Clemens G. Arvay, 2015, ISBN: 9783990011133
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