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Utopien statt Buchhalter

Utopien statt Buchhalter
(Alain Rischard/editpress)

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Bildung nicht nur für Wirtschaftsinteressen

Die Schule muss sich mehr an der Wirtschaft orientieren. So lautet eine Forderung, die immer wieder von Branchenverbänden, aber auch von anderen Akteuren wiederholt wird. Zuletzt sprach der neu ernannte Fedil-Präsident Nicolas Buck davon, dass Bildung und Industrie Symbiosen bilden müssten. Ein neuer Aktionsplan zur Förderung kleiner und mittlerer Betriebe, der letzte Woche im Wirtschaftsministerium vorgestellt wurde, verlangt, dass bei Schülern stärker für die Privatwirtschaft geworben werden soll und die jungen Menschen für das Unternehmertum gewonnen werden sollen. Konkret spricht sich Buck für eine Förderung der Mathematik aus, um Schüler besser auf Zukunftsberufe – etwa in der Informatik – vorzubereiten.

Im Kontext des „Rifkin-Plans“, den US-Ökonom Jeremy Rifkin derzeit zusammen mit Vertretern der Luxemburger Gesellschaft ausarbeitet, scheint die Bildung auch eine Rolle zu spielen. So heißt es, dass in der Region Nord-Pas-de-Calais, wo Rifkin aktiv war, die Lehrpläne an der Universität angepasst worden sind.
Die Akteure aus der Wirtschaft sehen die Aufgabe des Bildungssystems darin, Menschen die Fähigkeiten zu vermitteln, eine rentable Arbeit zu verrichten. So erhalten die Unternehmen Arbeitskräfte, die zu Umsatz beitragen können, und die Arbeitnehmer eine Zukunftsperspektive.

Die eigentliche Funktion des Bildungssystems sollte aber sein, emanzipierte, eigenständig denkende Menschen hervorzubringen. Menschen, die an politischen Prozessen teilnehmen können, ohne auf Populisten hereinzufallen. Menschen, die eigenständig neue Utopien erschaffen können. Menschen, die eigene Lebensentwürfe entwickeln können. Menschen, die einer Tätigkeit nachgehen, nicht weil diese Geld einbringt, sondern weil sie darin einen Sinn sehen. Es sollte nicht dazu kommen, dass Tätigkeiten, die sich nicht zu Geld machen lassen, aus dem Bildungssystem entfernt werden. Eine der hervorragendsten Leistungen, zu denen ein Mensch imstande ist, ist es, Wissen, das er an einer Stelle gelernt hat und das womöglich jahrelang scheinbar nutzlos in ihm schlummerte, plötzlich an ganz anderer Stelle anzuwenden – sprich Wissenstransfer zu leisten.

Oder aber sich in anderen Disziplinen umzusehen und dort Neues zu finden, das er auf seinem Gebiet anwenden kann. Dafür ist es aber nötig, dass die Menschen mit den verschiedenartigsten Dingen in Berührung kommen. Das Bildungssystem muss ein Umfeld schaffen, in dem dies gestattet ist und in dem die Schüler und Studierenden sich nicht nur über eine Spezialisierung beugen.Um es auf den Punkt zu bringen: Auch ein zukünftiger Buchhalter sollte Goethe und Camus gelesen haben. Ein schlechterer Buchhalter wird er dadurch nicht. Wahrscheinlich sogar eher ein besserer.

Auch „l’art pour l’art“ muss es geben. Tätigkeiten, die für die Privatwirtschaft keinen Wert haben, können einen immensen Wert für das schaffende Individuum oder andere Menschen haben. Wäre es tatsächlich gut für die Gesellschaft, wenn das Bildungssystem weniger Maler und Bildhauer hervorbrächte und dafür mehr Vermögensverwalter und Anwälte? Wenn es auf einmal weniger Soziologen und dafür mehr App-Entwickler gäbe? Weniger Philosophen und dafür mehr Steueroptimierer?

Dass gerade Psychologen in den letzten Monaten mehrfach als Beispiel für einen Beruf genannt worden sind, den mehr Menschen ergreifen als für die Wirtschaft benötigt wird, ist sehr bezeichnend für die wirtschaftliche Denkweise und die Folgen, die diese haben kann. Der Mensch ist kein Kapital – keine Ressource. Und das Bildungssystem sollte keine Maschinerie sein, die Arbeitsdrohnen herstellt. Eine Gesellschaft ohne „Dichter und Denker“ ist arm, egal wie hoch das Bruttoinlandsprodukt auch sein mag.

ygreis@tageblatt.lu