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Aus Genua sind bittere Lehren zu ziehen

Aus Genua sind bittere Lehren zu ziehen
Die Morandi-Brücke in Genua drei Tage nach der Katastrophe. Foto: AFP

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Der Zustand der Infrastruktur darf nicht nur im Fall einer Katastrophe zu einem Thema in der Öffentlichkeit werden.

Von Paola Subacchi, Senior Fellow von Chatham House

Ist unsere Infrastruktur sicher? Im Gefolge des Einsturzes der Morandi-Brücke in Genua ist dies eine allenthalben gestellte Frage. Natürlich könnte man argumentieren, dass Katastrophen wie diese Einzelfälle sind, und sogar glauben, dass sie auf Italien beschränkt sein könnten – ein Land, in dem Infrastrukturprojekte häufig ein Nährboden für Korruption sind. Aber dabei würde man sich lediglich selbst in die Tasche lügen.

Viele der in den 1950er- und 1960er-Jahren während des Wiederaufbaus nach dem Krieg in Westeuropa und den USA sind gebauten Brücken, Straßen und Eisenbahnen inzwischen alt, überlastet und den heutigen Anforderungen nicht mehr gewachsen. Hat irgendeine entwickelte Volkswirtschaft eine langfristige Strategie für die Verwaltung ihrer unverzichtbaren Infrastruktur? Werden die Risiken angemessen bewertet und abgemildert? Was sind die Vor- und Nachteile der Wartung bzw. Ersetzung von Infrastruktur am Ende ihrer Lebensdauer? Und wie können die Bürger die öffentliche Debatte darüber beeinflussen, wer für Infrastruktur bezahlen sollte und wo sie errichtet werden sollte?
Italien und andere hoch entwickelte Volkswirtschaften brauchen Politiken, die die von den Kommunen und Zentralregierungen im Laufe der Jahre entwickelten Infrastruktur-Pläne auf strategische und nachhaltige Weise zusammenführen. Sie müssen die in den kommenden Jahren benötigten Ressourcen und finanziellen Mittel abschätzen. Und sie sollten auf den Wert wichtiger Infrastruktur für die Gesellschaft und nicht nur auf die unmittelbaren finanziellen Renditen abstellen.

Die Aufrüstung von Zügen und Eisenbahnnetzen etwa schafft Effizienzsteigerungen sowohl in Bezug auf die Fahrzeiten für Pendler als auch die Umweltauswirkungen und hat positive Effekte für viele Kommunen. Daher sollte die öffentliche Debatte diesbezüglich von den kurzfristigen auf die langfristigen Auswirkungen und vom individuellen auf den kollektiven Nutzen verlagert werden.

Spielraum für Finanzinnovationen

Als 1963 mit dem Bau der Morandi-Brücke begonnen wurde, waren die Regierungen aktiv in die Infrastruktur-Investitionen und die Verwaltung und das Eigentum wichtiger öffentlicher Versorger eingebunden. Bau und Wartung wurden durch Steuereinnahmen finanziert, während der private Sektor an irgendeinem Punkt während der Bauphase einbezogen wurde. Es gab sogar Spielraum für Finanzinnovationen.

Der erste Eurobond überhaupt wurde 1963 von dem italienischen Autobahnnetz-Betreiber Autostrade begeben, jenem Unternehmen, das jetzt vom Einsturz der Morandi-Brücke betroffen ist. In jenen Jahren wuchs die italienische Volkswirtschaft real gesehen mit einer Jahresrate von durchschnittlich 5,3%, und die Investitionen in die Infrastruktur trugen erheblich zum BIP-Wachstum bei. Genua war eine bedeutende Industriestadt mit Stahlwerken und Schiffswerften und einer der wichtigsten Häfen Europas.

Mit der Politik der Nachfragesteuerung geriet dann auch die Rolle des Staates bei der langfristigen Planung der Infrastruktur und der Koordinierung des Marktes außer Mode. Angesichts der Haushaltsexzesse der 1970er-Jahre und der Notwendigkeit, die öffentlichen Ausgaben unter Kontrolle zu bekommen, zog man die vorgebliche Neutralität des Marktes staatlichen Eingriffen als Mechanismus zur Allokation von Steuergeldern vor. Die wachsende Staatsverschuldung (und mit 132% vom BIP ist die öffentliche Verschuldung Italiens eine der höchsten weltweit) führte zu einer Hinwendung zum Neoliberalismus, deren Ergebnis die Privatisierung vieler Infrastrukturprojekte war.

Während sich die Allokationsmechanismen verbessert haben, erschwert die Übergabe des größten Teils der Infrastruktur in private Hände eine sehr langfristige Planung (für ein halbes Jahrhundert oder länger) sowie die Übernahme der Großprojekten innewohnenden Risiken. Der im Vergleich zum öffentlichen Sektor kürzere Zeithorizont privater Investoren hat zum „Fluch der hinreichenden Qualität“ geführt, bei dem die Anreize verstärkt auf die Wartung statt auf die Ersetzung und Verbesserung der bestehenden Infrastruktur gerichtet sind.

Eine moderne Infrastrukturpolitik wird sich zwei wichtigen Fragen stellen müssen. Die erste ist, wer für den Bau der Infrastruktur bezahlen soll. Die Finanzierung durch die Zentralregierung über Steuereinnahmen könnte jenen gegenüber unfair sein, die diese Infrastruktur nie nutzen oder nicht direkt von ihr profitieren, weil sie in anderen Gegenden wohnen. Sollten in derartigen Fällen die Kommunen die Kosten übernehmen, oder sollten die Projekte durch öffentlich-private Partnerschaften finanziert werden, bei denen die Nutzer etwa durch Mautgebühren zur Kasse gebeten werden? Jede Lösung erfordert eine sorgfältige Bewertung der Vor- und Nachteile und der öffentlichen Prioritäten.

Brücke mit Pomp eingeweiht

Die zweite Frage betrifft Bedenken darüber, wo neue Infrastruktur gebaut werden soll. Die Alternative zur überlasteten Morandi-Brücke umfasst den Bau einer neuen Verbindungsstraße um den Nordrand Genuas herum. Anwohner und Politiker – einschließlich von Mitgliedern der regierenden Fünf-Sterne-Bewegung – haben diesem Plan jahrelang Widerstand geleistet.

Die Morandi-Brücke wurde 1967 mit großem Pomp vom damaligen italienischen Staatspräsidenten eingeweiht. Damals schufen derartige Projekte politisches Kapital – und zwar nicht nur aufgrund von Patronage und Korruption. Heute scheinen die modernen Demokratien im Für und Wider zwischen dem kollektiven Nutzen der Infrastruktur und den Individualrechten festzustecken, und Großprojekte sind für eine Politikerkarriere häufig tödlich.

Die Anwohner fordern getreu dem St.-Florians-Prinzip, nicht jenen Störungen ausgesetzt zu werden, die derartige Projekte unweigerlich mit sich bringen. Doch haben derartige Forderungen dazu geführt, dass viele Infrastrukturprojekte – wie etwa die dritte Landebahn in Heathrow oder die Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnverbindung zwischen Turin und Lyon – über Jahre verzögert wurden. Daher ist auch für den öffentlichen Sektor der Standardmodus inzwischen, die alte Infrastruktur so lange wie möglich beizubehalten.

Eine qualitativ hochwertige Infrastruktur ist eine Grundvoraussetzung für wirtschaftliche Nachhaltigkeit und Wohlstand. Ohne eine gesunde öffentliche Debatte, die sich auf die Kosten und den Nutzen von Projekten, auf kollektive Verantwortlichkeit und individuelle Rechte und auf das Für und Wider der unterschiedlichen Entscheidungen konzentriert, gelangt die Infrastruktur immer nur im Falle einer Katastrophe in die Schlagzeilen und löst dann einen Wasserfall der Anschuldigungen, Schuldzuweisungen und des politischen Opportunismus aus. Und wenn wir das Problem wie bisher weiter vor uns her schieben, während sich die bestehende Infrastruktur ihrem Verfallsdatum nähert, können wir für die nicht allzu ferne Zukunft viele weitere derartige Schlagzeilen erwarten.

Aus dem Englischen von Jan Doolan / © Project Syndicate, 2018