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Mehr als 900 Migranten sind in diesem Jahr bereits im Mittelmeer beim Versuch ertrunken, Europa zu erreichen. Zugleich haben die Rettungsschiffe Open Arms und Ocean Viking den Sommer mit der Suche nach einem sicheren Hafen verbracht, der es ihrer menschlichen Fracht gestattet, an Land zu gehen. Die Flüchtlings- und Migrantenlager auf der griechischen Insel Lesbos sind völlig überlastet und die Bedingungen in anderen Aufnahmelagern in Libyen sind ähnlich schrecklich. Und die Türkei hat die Vereinbarung aus dem Jahr 2016 untergraben, gemäß welcher sie den Migrantenstrom in die Europäische Union eingedämmt hatte.

Von Claus Sørensen*

Obwohl Europa den Migranten helfen und das Völkerrecht respektieren möchte, will es nicht überrollt werden. Der steile Anstieg der Zahl der Flüchtlinge und Migranten, die 2015-16 in die EU kamen und von denen viele vor dem Krieg in Syrien flüchteten, hat das Vertrauen innerhalb des Blocks dramatisch untergraben. Der enorme Zustrom höhlte das Zutrauen in die Verwaltung der EU-Außengrenzen und das Asylmanagement aus und machte die Schwäche der Partnerschaften mit den Herkunftsländern der Migranten deutlich. Die Migration entwickelte sich daher zur Freude der Populisten zum politischen Spielball.

Die neue Europäische Kommission unter Präsidentin Ursula von der Leyen muss deshalb die Kontrolle über die Migration zurückerlangen und dabei zugleich die Würde derjenigen respektieren, die auf der Suche nach einem besseren Leben sind. Hierzu muss sie den Ansatz der EU in vier Bereichen neu ausrichten und dabei im europäischen Interesse die Mitgliedstaaten mobilisieren. Erstens muss die EU dringend ihre Außengrenzen sichern; dies ist eine Grundvoraussetzung für eine Offenhaltung ihrer internen Grenzen. Kein anderes Gebiet mit interner Freizügigkeit, einschließlich Ländern wie den USA, Indien, China, der Schweiz oder Russland, überlässt die Kontrolle seiner Außengrenzen seinen Staaten oder Regionen. Die Kontrolle der Außengrenzen der EU muss eine gemeinsame ebenso wie eine nationale Aufgabe sein.

Die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) muss daher weiter verstärkt werden und sollte – u. a. an den Seegrenzen und auf Flughäfen – Grenzschützer gemeinsam mit den Mitgliedstaaten einsetzen. Die EU muss zudem ihre als Operation Sophia bezeichnete Initiative zur Bekämpfung des Flüchtlingsschmuggels im Mittelmeer neu beleben.
Tabus brechen.

Faire Anhörung

Zweitens muss Europa Wirtschaftsmigranten und Asylsuchende getrennt behandeln. Sie in einen Topf zu werfen, hat sein Asylsystem an den Rand des Zusammenbruchs gebracht; sie zu trennen, würde dazu beitragen, dass jene, die um ihr Leben fürchten, eine faire Anhörung erhalten, bei der ihre Rechte geschützt werden.

Den genuinen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedürfnissen der EU Rechnung zu tragen, erfordert ein effizientes Blue- oder Green-Card-System für Wirtschaftsmigranten mit einem Gesamteinwanderungsziel. Und die Politiker dürfen nicht bis zur nächsten Migrationskrise warten, bevor sie ein derartiges System einführen. Damit dies passiert, muss die EU möglicherweise gegen einige Tabus verstoßen. Erstens muss die Zahl der Wirtschaftsmigranten, die in den EU-Arbeitsmarkt eintreten, als Thema von gemeinsamem Interesse anerkannt werden. Zweitens muss aus den Regelungen ausdrücklich hervorgehen, welche Migranten willkommen sind. Drittens müssen die Mitgliedstaaten gefragt werden, was für Unterstützung sie von der EU benötigen würden, um den Prozess zu vereinfachen. Und schließlich gehören Visa und Arbeitserlaubnisse auf den Tisch, um die Rückführung illegaler Einwanderer in ihre Herkunftsländer zu vereinfachen.

Zwar verwaltet gemäß dem EU-Vertrag jeder Mitgliedstaat die Einwanderung selbstständig. Doch wäre es für die Regierungen kein großer Sprung, ein allgemeines, EU-weites Einwanderungsziel zu vereinbaren. Die Mitgliedstaaten wiederum könnten die Herkunftsländer und Profile von Wirtschaftsmigranten, die sie bevorzugen, sowie die für deren Aufnahme erforderlichen EU-Haushaltsmittel angeben. Ziehungsrechte in Bezug auf Migranten wären daher ein Privileg statt einer Belastung. Kanada etwa verfolgt seit langem eine aktive Einwanderungspolitik, wobei die Auswahl im Einklang mit Kriterien wie dem Herkunftsland, den Qualifikationen und der Altersgruppe erfolgt. Europa kann dasselbe tun.

Europäische Solidarität

Drittens muss die EU ihr Asylsystem reparieren. Zunächst einmal muss sie das unsensible Beharren auf eine zwangsweise Umverteilung der Asylsuchenden innerhalb der EU aufgeben. Diese hat die Atmosphäre innerhalb des Blocks vergiftet, aber könnte funktionieren, wenn erst einmal ein vollständig wirksames Grenz-, Asyl- und Einwanderungssystem eingerichtet wurde.

Darüber hinaus kann man von jenen EU-Mitgliedstaaten, über die die meisten illegalen Migranten in die EU gelangen, nicht erwarten, dass sie deren Einreise über ihre Außengrenzen allein bewältigen. Die Lager sind überfüllt, und die Migranten werden entweder schlecht behandelt oder von den überlasteten Behörden gen Norden weitergeschickt. Die Verantwortung des Mitgliedstaates, in dem diese Migranten erstmals EU-Boden betreten, muss durch europäische Solidarität ergänzt werden.

Die EU muss zudem Fachkenntnisse und Finanzmittel zur Verfügung stellen, um die Verfahren und Steuerungskapazitäten der nationalen Asylbehörden aufeinander abzustimmen. Nur dann werden die nationalen Entscheidungen innerhalb des gesamten Schengen-Raums akzeptiert werden, was die Aufrechterhaltung des grenzfreien Reisegebiets sicherstellt. Eine derartige Abstimmung würde zudem langfristig die gemeinsame Bearbeitung der Asylanträge durch die Mitgliedstaaten ermöglichen.

Für Stabilität sorgen

Viertens sollte die EU stärkere, für alle Beteiligten nützliche Partnerschaften mit den Herkunfts- und Transitländern schließen. Derartige Beziehungen sind unverzichtbar, um die prompte Rückführung derjenigen zu ermöglichen, denen die Einreise in die EU rechtmäßig verweigert wird. Um dabei zu helfen, eine derartige Zusammenarbeit sicherzustellen, sollte die EU alle ihre außenpolitischen Instrumente mobilisieren, darunter Gelder für Entwicklungshilfe und Investitionen sowie Initiativen in den Bereichen Sicherheit, Handel, Energie, Land- und Fischwirtschaft, Bekämpfung des Klimawandels, Luftfahrt und Gesundheit. Die EU-Einwanderungsziele würden, im Verbund mit Qualifizierungspartnerschaften zur Vorbereitung auf eine Tätigkeit in Europa, zudem Drittländern angeboten werden, die ein Interesse an stabilen Geldsendungen aus dem Ausland haben.

Zugleich muss die EU versuchen, die Grundursachen der Migration zu bekämpfen. Hierzu gehören die Bevölkerungsexplosion in Schwarzafrika, der die Sicherheit der Nahrungsversorgung untergrabende Klimawandel, sich wiederholende Pandemien, ethnische Konflikte und Arbeitsplatzmangel.

Die Unterstützung durch die EU sollte sich darauf konzentrieren, wieder Stabilität herzustellen und Risiken abzubauen, indem sie die Sicherheit, die Robustheit von Gemeinwesen und eine gute Regierungsführung unterstützt. Ein Erfolg hierbei würde die Investitionssicherheit steigern, private und inländische Finanzmittel freisetzen und es so ermöglichen, dass die nationalen Volkswirtschaften wachsen, Arbeitsplätze schaffen und eine Alternative zur Migration bieten. Die neue Europäische Kommission hat eine Chance, die EU von reflexartigen Reaktionen auf Migrationskrisen weg und in Richtung eines in sich deutlich schlüssigeren, nachhaltigeren Ansatzes nach innen wie nach außen zu lenken. Sie kann es sich nicht leisten, diese Chance zu verpassen.

* Claus Sørensen ist ehemaliger Generaldirektor der Abteilung Humanitäre Hilfe und Katastrophenschutz der Europäischen Kommission. Aus dem Englischen von Jan Doolan Copyright: Project Syndicate, 2019.

spëtzbouf
15. Oktober 2019 - 19.01

Männerüberhang?!!!!! :)

de Prolet
11. Oktober 2019 - 18.49

Und diese Sache ist effektiv brandgefährlich, eine tickende Bombe !

Jacques Zeyen
11. Oktober 2019 - 16.52

PS: Diese Männer haben es in unseren Gefängnissen besser als bei ihnen zu hause im Alltag. Sie haben nichts zu verlieren.Das macht die Sache so gefährlich.

Jacques Zeyen
11. Oktober 2019 - 16.51

Vielleicht unterstützen diese Regimes die Schurken in allen Ländern dieser Erde um den Westen zu destabilisieren. Putin lacht sich ins Fäustchen wenn er unsere Probleme mit den "Flüchtlingen" sieht.Wo kommen die Waffen her mit denen ISS & Co ihre Mitmenschen drangsalieren? Aus der Schweiz?? Sicher nicht.

GuyT
11. Oktober 2019 - 13.38

Durch den migrationsbedingten Männerüberhang, der nicht nur durch die Pressebilder der ONG Rettungsboote anschaulich wird sondern auch statistisch belegt ist, entstehen viele Probleme . Asoziales und aggressives Verhalten steigt proportional zur Zahl unverheirateter Männer. Die Betroffenen sind schnell im gesellschaftlichen Aus, ohne Aussicht auf eine Familiengründung und sexuell frustriert. Das gefährdet die Sicherheit und die Stabilität des Gemeinwesens.

de Prolet
10. Oktober 2019 - 15.22

Effektiv, die Emigration kann doch nicht die Lösung sein! Den Menschen muss vor Ort geholfen werden , sonst werden diese Gebiete entvölkert und haben überhaupt keine Zukunft mehr. Aber das ist geopolitisch ein heisses Eisen. Nur komisch, dass es die Flüchtlinge nicht nach Russland oder China zieht. Europa allein ist überfordert und wird dieses Problem auf kurz oder lang nicht lösen können, besonders wenn die Türkei ihre Westgrenzen für die Asylanten sperrangelweit öffnet. Welche Zukunft haben denn dies jungen Männer in Europa? Was erwartet sie ? Was, wenn sie nicht bekommen was sie sich erwarten oder erhoffen?

Jacques Zeyen
4. Oktober 2019 - 9.42

Und wieder einmal.Das Foto zeigt stramme Jungs zwischen 18 und 35.Wo sind die Frauen und Kinder und die Alten? In der Hölle zurückgelassen? Wer ist verantwortlich für diese Hölle? Und warum helfen wir diesen Leuten nicht das Feuer in ihrer Hölle zu löschen?