Das Luxemburger Wahlsystem ist aus der Zeit gefallen. Statt gesellschaftliche Realitäten abzubilden, feiert es ein Folklore-Fest. Das System gehört dringend reformiert. Das haben die Wahlen am Sonntag endgültig gezeigt.
Problem Nummer eins: Weder die Zahl der Mandate noch die Grenzen der vier Wahlbezirke haben im Jahr 2023 irgendeinen Bezug zur Realität. Sie spiegeln einen räumlichen Zustand wider, der mehr als 100 Jahre her ist, und einen demografischen, der mehr als 30 Jahre her ist. Dass sich Luxemburg seitdem in beiden Disziplinen drastisch verändert hat, muss endlich im politischen System ankommen.
Noch immer entsendet der Bereich des Landes, der „Süden“ genannt wird, 23 Abgeordnete in die Chamber. Jener, der als „Zentrum“ bekannt ist, 21. Und die beiden ländlichen Bezirke Norden und Osten insgesamt 16. Warum? – Weil es so in einem Gesetz steht. Einen Realitätsbezug haben diese Zahlen im Jahr 2023 keinen. Sie können weder anhand der einheimischen Bevölkerung noch anhand der wahlberechtigten Bevölkerung noch anhand der Bevölkerung insgesamt gerechtfertigt werden. Und darin sind jene 122.000 Luxemburger, die im Ausland leben, noch nicht einmal mit eingerechnet.
Problem Nummer zwei: die Ausländer, die in Luxemburg leben. Ja, ein Ausländerwahlrecht bei Wahlen zum nationalen Parlament hat auf der Welt Seltenheitswert. Selten ist aber auch ein Ausländeranteil, der so hoch ist wie hierzulande: Ende des vergangenen Jahres lag er bei 47,4 Prozent. Das heißt umgekehrt: Fast die Hälfte der in diesem Land lebenden Menschen sind vom politischen Entscheidungsprozess ausgeschlossen. Ist das noch demokratisch? „Schon der Soziologe Fernand Fehlen sagt, dass man heute wieder das Zensuswahlrecht hat“, betonte der Historiker Denis Scuto in der vergangenen Woche im Radiosender 100,7.
Problem Nummer drei: das ewige Restsitz-Rechenmysterium. So auch beim Wahlergebnis vom Sonntag in Erscheinung getreten. 18,91 Prozent der Stimmen haben die Sozialisten landesweit auf sich vereinen können. 0,21 Prozent mehr als die DP, die 18,7 Prozent einfuhr. Dank des Systems, nach dem diese Stimmen in Luxemburg auf Mandate verteilt werden, zieht die LSAP aber mit weniger Abgeordneten als die Liberalen ins Parlament ein. Und die Differenz ist massiv: Die DP hat ganze drei Sitze mehr zugesprochen bekommen, also 27 Prozent mehr. Wie gesagt – bei 0,21 Prozent weniger Stimmen landesweit.
Der Gedanke, durch die Wahlbezirke ein föderalistisches Element ins politische System zu integrieren, war sicherlich zu einem gewissen Zeitpunkt in der Vergangenheit nicht falsch. Genauso wenig die Berechnungsmethode für die Verteilung der Restsitze, die die Schaffung stabiler Mehrheiten vereinfachen sollte. Nur: Werden die Diskrepanzen zwischen Wahlvolk, Parlament, Organisationsprinzip und Herrschaft zu groß, dann bringt die stabilste Mehrheit nichts mehr – sie ist nicht mehr legitimiert.
Bei der Arbeit an der Verfassungsreform haben die politischen Akteure seinerzeit überlegt, das Wahlsystem gleich mitzuändern. Letztendlich wurde sich dagegen entschieden – um den Konsens beim Mega-Projekt neue Verfassung nicht zu gefährden. Das ist der springende Punkt: Alle Parteien werden ein neues Modell naturgemäß erst auf die Waagschale legen – und sich danach entscheiden, ob es sich für sie lohnt.
Aber die Rahmenbedingungen für unsere Demokratie ändern sich zu schnell. Die politischen Akteure müssen sich in der kommenden Legislaturperiode diesen unangenehmen Fragen stellen. Wollen wir unsere Demokratie für die nächsten 30 Jahre fit machen? Oder wollen wir unsere Folklore pflegen?
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