Im Herbst 1944 tobte in der Eifel eine der grausamsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs. Schauplatz war ein Gebiet, wie es amerikanische Soldaten bis dahin eher aus Schauermärchen kannten: der Hürtgenwald. Ein Besuch 75 Jahre danach.
Kurz bevor er den Weg verlässt und querfeldein in den Wald einbiegt, dreht sich Dieter Heckmann noch einmal um. «Bleiben Sie immer hinter mir!», mahnt er. Er sagt es in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zulässt. «Der Wald ist nie hundertprozentig sauber geräumt werden», fügt er hinzu. Es habe in den letzten Jahrzehnten zwar nie einen Zwischenfall mit Blindgängern gegeben. «Aber ich bleibe dabei. Das ist in mir.» Vielleicht hat die Warnung eher mit Psychologie zu tun: Wenn man die Geschichte dieses Waldes kennt, dann betritt man ihn nicht leichtfertig. Dann weiß man, dass dies kein gewöhnlicher Ort ist. Amerikanische Soldaten nannten ihn die «Death Factory». Die Todesfabrik.
Vor 75 Jahren, im Herbst 1944, tobte hier die Schlacht im Hürtgenwald. «Die Bedeutung der Schlacht besteht vor allem darin, dass sie die längste und verlustreichste Auseinandersetzung an der Westfront am Ende des Zweiten Weltkriegs war», erläutert der Historiker Peter Quadflieg vom Staatsarchiv im belgischen Eupen. «Die Abwehrmaßnahmen der Deutschen führten dazu, dass sich der Krieg noch einmal deutlich verlängerte.» Eine der Konsequenzen: In den Konzentrationslagern konnten noch einige Monate länger Menschen gequält und getötet werden.
In Deutschland ist die Schlacht relativ unbekannt – anders als in den USA: «Für die Amerikaner war es die verlustreichste Schlacht des Zweiten Weltkriegs auf dem europäischen Kontinent, und dadurch ist sie in der amerikanischen Erinnerung sehr präsent», sagt Quadflieg.
ZEHNTAUSENDE SOLDATEN ALS OPFER
Auf beiden Seiten seien zusammen etwa 30 000 Soldaten getötet, verletzt oder gefangen genommen worden. Viele fielen auch durch Krankheiten. Allerdings seien die genauen Opferzahlen bis heute unklar – besonders auf deutscher Seite, sagt Quadflieg. Die Kämpfe zogen sich über Monate hin, von Oktober 1944 bis Februar 1945. «Man muss sich das mal vorstellen: Von Juni bis September marschieren die Amerikaner vom Strand der Normandie bis nach Aachen, und dann brauchen sie nochmal genauso lange für die paar Kilometer durch den Hürtgenwald.»
Hoch und dicht stehen hier die Fichten. Auch ohne seine Vergangenheit hätte dieser Wald etwas Finsteres. «Wenn das Licht weggeht, die Dunkelheit kommt und dann noch Regen einsetzt, ist der Wald mystisch», sagt Dieter Heckmann. «Das wirkt unwahrscheinlich stark.»
Der 77 Jahre alte Rentner kennt den Wald und seine Geschichten seit langem. Er hat sich von amerikanischen und deutschen Veteranen ihre Erlebnisse schildern lassen. Heute führt er regelmäßig Besucher durch das Gebiet in der Nordeifel. Er ist Mitglied im Geschichtsverein Hürtgenwald und einer der Betreuer des Privatmuseums «Hürtgenwald 1944 und im Frieden».
Am 12. September 1944 hatten die US-Streitkräfte den ersten deutschen Ort von der Nazi-Diktatur befreit: Roetgen, direkt hinter der belgischen Grenze. Nun wollten sie so schnell wie möglich zum Rhein nach Köln vorstoßen. Dazwischen lag der Hürtgenwald. Wegen akuter Nachschubprobleme musste der Vormarsch jedoch erst einmal aufgeschoben werden. Diese Pause wusste die Wehrmacht zu nutzen: «Die Deutschen haben Artillerie, also Kanonen, und Mörser in den Wald gebracht, und Schützengräben ausgehoben», schildert der Historiker Arnd Bauerkämper von der Freien Universität Berlin. «Die Deutschen haben auch die Höhenkämme besetzt.» Außerdem verminten sie das Gelände.
Bis heute sind ihre Spuren im Wald zu finden. Die Gräben sind jetzt zwar bedeckt mit Tannennadeln, aber doch unverkennbar. Dieter Heckmann weiß auch, wo die Bunker liegen, intakte und gesprengte. Auf den Gesteinsblöcken wachsen Farne und Bäume, aber noch immer haben sie die dunkelgrüne Farbe, in der alle Anlagen des «Westwalls» angestrichen waren. Dieses Verteidigungssystem verlief entlang der deutschen Westgrenze von den Niederlanden bis zur Schweiz.
HEMINGWAY UND SALINGER WAREN DORT
Es wurde Herbst, ehe die Amerikaner schließlich den Hürtgenwald betraten. «Es war kalt und regnete und wehte kräftig, und vor uns erstreckte sich die dunkle Baumwand der Schnee-Eifel, wo der Drachen lebte.» Das berichtete der als Kriegsreporter mitreisende Schriftsteller Ernest Hemingway für das «Collier’s Magazine». Schon im belgisch-deutschen Grenzgebiet hatte sich der spätere Nobelpreisträger durch die schroffe Eifellandschaft mit ihren engen Tälern und steilen Hängen an Illustrationen aus Grimms Märchen erinnert gefühlt, «nur viel dunkler».
Hemingway war nicht der einzige Literat im Hürtgenwald: Der 20 Jahre jüngere Jerome David Salinger habe dort während der Gefechtspausen die ersten Kapitel seines Kultromans «Der Fänger im Roggen» geschrieben, erzählt Kurt Müller, Professor für Amerikanistik in Jena und Autor eines Hemingway-Buchs. «Hemingway und Salinger haben sich sogar am Rande der Schlacht nochmal getroffen, nachdem sie sich zuvor schon in Paris kennengelernt hatten.»
Hemingway sei insgesamt 18 Tage im Hürtgenwald gewesen. Das Erlebnis des sinnlosen Tötens habe er später in seinem Roman «Über den Fluss und in die Wälder» auf durchaus ambivalente Weise verarbeitet, erläutert Müller: «Zwar thematisiert der Roman stellenweise recht eindrücklich das Grauen und den Irrsinn des Kriegsgeschehens, zelebriert aber gleichzeitig auch unbeirrt wie schon in früheren Werken ein männlich-soldatisches Pflichtethos.»
Die Amerikaner erwarteten keinen größeren Widerstand mehr, denn der Krieg war für Nazi-Deutschland sowieso verloren. Doch je tiefer die GIs in den Hürtgenwald vordrangen, desto mehr büßten sie ihre militärische Überlegenheit ein. «Die Amerikaner konnten ihre Luftwaffe nicht durchgehend einsetzen, wie sie es seit der Landung gewöhnt waren, weil das Wetter oft schlecht war und sich alles unter Baumwipfeln abspielte», erklärt Historiker Quadflieg.
DER EFFEKT DES DUNKLEN WALDES
«Auch die Manövrierfähigkeit ihrer Panzer zwischen den Bäumen war eingeschränkt», sagt er. Zudem hätten die Amerikaner keine Erfahrung mit Kämpfen im Wald und in Gebirgslagen gehabt, ergänzt Prof. Bauerkämper. «Im Ersten Weltkrieg in Frankreich und dann wieder nach der Landung in der Normandie 1944 spielte sich alles in der Ebene ab, und da war auch nicht viel Wald.» Dazu komme der «psychologische Effekt eines dichten, dunklen Waldes auf eindringende Soldaten».
Der Wald könne beängstigend sein, bestätigt Dieter Heckmann. «Beklemmend auch.» Anfang der 90er Jahre ging der Hobby-Historiker die Schauplätze der Kämpfe mit dem dem ehemaligen Wehrmachtsoffizier Paul Brückner ab, der seine Erlebnisse auf einem Zeitzeugenportal dokumentiert hat. Beim Gang über den federnden Waldboden erinnert sich Heckmann, wie Brückner ihm damals sagte: «Ich war in Russland gewesen, hatte dort unglaublich grausame Dinge erlebt. Aber was sich im Hürtgenwald abgespielt hat, hat alles übertroffen.»
HÖHEPUNKT AM 2. NOVEMBER
Brückner erzählte demnach, wie er nachts mit einem Spähtrupp unterwegs war. Plötzlich hörten sie ein furchtbares Stöhnen: Auf einer Lichtung lag ein schwer verletzter amerikanischer Soldat. Die Deutschen hatten einen Sanitäter dabei, der sich um den Verwundeten kümmern wollte. «Da hat der Unteroffizier geschrien: «Finger weg, lassen Sie den Mann liegen. Das bisschen Verbandsmaterial, was wir haben, brauchen wir für uns.» Und dann kommt das ganz Schlimme: Der Unteroffizier ist nach zehn, fünfzehn Metern nochmal zu dem Amerikaner zurückgegangen, hat den hochgehoben – und der muss gestöhnt und geschrien haben – und hat ihm Sprengmaterial unter den Rücken gelegt. Der nächste, der den anpackt …» Heckmann führt den Satz nicht zu Ende.
«Die Deutschen haben ihre Artillerie oft so eingesetzt, dass die Granaten in Höhe der Baumwipfel explodierten, so dass sich die Wirkung durch die zerberstenden Bäume noch einmal verstärkte», sagt Bauerkämper. Als Höhepunkt der Kämpfe gilt die Allerseelenschlacht am 2. November 1944.
Erst am 29. November konnte das Dorf Hürtgen eingenommen werden. Doch damit war der Krieg in der Region noch nicht vorbei, denn erst jetzt zeigte sich, warum die Deutschen den Wald so verbissen verteidigt hatten: Am 16. Dezember begann Adolf Hitler von der Eifel aus seine letzte Offensive. Über die Ardennen wollte er nach Antwerpen vorstoßen und die Westalliierten so zu einem Separatfrieden zwingen. Der wahnwitzige Plan scheiterte binnen Tagen, kostete aber erneut viele zehntausend Soldaten und etwa 3000 Zivilisten das Leben.
«WE WILL NOT FORGET 44-45»
Hier und dort erheben sich im Hürtgenwald Gedenkstellen für einzelne Soldaten, die Jahrzehnte nach der Schlacht noch durch Zufall gefunden worden sind. In einem Steinhügel brennt vor einer kleinen, auf dem Boden ausgebreiteten US-Flagge sogar ein Grablicht, an einem Fichtenstamm hängt das Schild «We will not forget 44-45» (Wir werden 44-45 nicht vergessen).
Heckmann zeigt auf den Waldboden: «Hier liegen noch Amerikaner und Deutsche in der Erde. Vor wenigen Jahren hat man noch einen amerikanischen Infanteristen beim Verbreitern der Straße gefunden, der lag nur einen Meter fünfzig tief.»
Selbst nach dem Krieg ging das Sterben im Hürtgenwald weiter, denn die ganze Gegend war vermint. «Bis heute ist da der Kampfmittelräumdienst im Einsatz», sagt Quadflieg. «Dennoch ist auf lokaler Ebene gar kein so starkes Bemühen um Erinnerung vorhanden. Dadurch blieb dies lange den Veteranen der Wehrmacht überlassen, die diesen Ort für ihre eigene Gedenkkultur instrumentalisiert und die Legende von der sauberen Wehrmacht verbreitet haben. Da war dann sehr viel von heldenhaftem Kampf, Pflichterfüllung und Opfertum die Rede. Das wird heute dankbar von Rechtsradikalen aufgegriffen, zumal dies ein relativ unbeobachteter Raum in einer dünn besiedelten Gegend ist.»
ANLAUFPUNKT AUCH FÜR NEONAZIS
Ein Anlaufpunkt von Neonazis sei zum Beispiel das Grab des Generalfeldmarschalls, Hitler-Verehrers und Kriegsverbrechers Walter Model auf dem Soldatenfriedhof Vossenack, auf das dort sogar eigens hingewiesen wird. Ein vollständigeres und kritischeres Erinnerungsbild hält Quadflieg dringend für nötig.
Es ist still im Hürtgenwald. Keine Straße rauscht, kein Vogel singt. Wenn Dieter Heckmann im Herbst oder im Winter von seinen Führungen nach Hause kommt, ist ihm jedes Mal bewusst, wie glücklich er sich schätzen kann, dass er nie Krieg erlebt hat.
«Aber ich frage mich dann auch: «Hättest du diesen Wahnsinn geglaubt? Endsieg für den Führer?»» Hätte er? «Ich schwanke immer hin und her. Manchmal glaube ich, ich hätte auch gedacht: «Jetzt geht’s für Deutschland».»
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