In seinem packenden und authentischen Sachbuch „Ein Kosmos im Regenwald, Mythen und Visionen der Lakandonen-Indianer“ (*), das jetzt als willkommene Neuauflage vorliegt, berichtet der Hamburger Botaniker und promovierte Ethnologe Christian Rätsch von seinen einstigen Abenteuern bei den Lakandonen, den Nachfahren der Maya, bei denen er Ende der Siebziger und Anfang der Achtziger des vergangenen Jahrhunderts mehrere Jahre im dichten Regenwald des südmexikanischen Bundesstaats Chiapas, fernab von jeder Zivilisation, verbrachte.
„Damals konnte ich noch die traditionelle heidnisch-schamanische Kultur miterleben. Ich durfte gleich die Mythologie, die Gebete, die Divination, Zauberlieder und Zaubersprüche mit meinem UHER-Kassettenrekorder aufnehmen (UHER war damals das beste Aufnahmegerät). Dank der Transkriptionen mit der unersetzlichen Hilfe von Sohn K’ayum Ma’ax konnte ich die wunderbaren Worte, Erzählungen, Sprüche vom alten Chan K’in Ma’ax (’Viejo’) ins Deutsche übersetzen. Daraus entstand das vorliegende Buch ‚Ein Kosmos im Regenwald‘. Das war mein Titelvorschlag. Zum Glück hat ihn der Verlag übernommen.“
Die letzte Bastion unverfälschter Maya-Kultur
Christian Rätsch teilte das karge tägliche Dasein der Lakandonen, in dem magische Rituale, mythische Gebräuche, uralte religiöse Traditionen, die Heilkraft seltener Pflanzen und auch Zauberei voll zum Tragen kommen, wobei er stets auf seinen Leitsatz setzte: „Man kann eine fremde Kultur nur wirklich begreifen, wenn man ganz und gar in ihr lebt.“
So konnte er tief in das Natur- und Menschenbild der Lakandonen eindringen, das auf dem ökologischen Gleichgewicht ihres Lebensraums im Dschungel fußt. Ihre Lieder, Naturbeschreibungen und Bannsprüche sind ein Spiegel des Kosmos. Das Wort der Lakandonen für Welt ist Wald. Stirbt der Wald, naht das Ende der Welt.
Die fortschreitende Ausbeutung der Edelhölzer und Bodenschätze zerstört immer mehr den Lebensraum der „echten Menschen“, wie sich die Lakandonen selbst nennen, die heute als die letzte Bastion einer unverfälschten Maya-Kultur gelten, sich allen Bemühungen der Christianisierung erfolgreich entzogen haben und inzwischen mit einem ihnen zugewiesenen Reservat vorliebnehmen müssen.
Lehrjahre bei den Erben der Maya
Von kleiner schmächtiger Gestalt, markanter Bogennase und hellbrauner Hautfarbe wirken sie unscheinbar in ihren weißen Anzügen und Kleidern. Sie reden eine zungenbrechende Stakkatosprache und erwecken einen schüchternen, beinahe verschlossenen Eindruck. Laut Autor erweisen sie sich im Gegensatz zu ihrem Ruf als überaus verständnisvolle Burschen, die mit Mord und Totschlag nichts am Hut haben: „Das Leben mit diesen wunderbaren Menschen in dem herrlichen Dschungel ist so voller Ruhe und Frieden.“ Auch „Selbstvorwürfe, Selbstmitleid und Selbstbeweihräucherung scheinen völlig unbekannt zu sein“, vermerkt der Völkerkundler überrascht.
Bei den Nachkommen der Maya musste der Gast aus der „Anderswelt“ seine ihn anödende tägliche Hausmannskost, Maisfladen und schwarze Bohnen, den Feldern selbst abgewinnen, ein Pensum, mit dem er ohne Weiteres klarkam.
Das beschauliche Dasein im Regenwald, für das Christian Rätsch eine Lanze bricht, wurde nur durch Krankheiten verfinstert, beispielsweise durch eine Amöbenruhr, die den Ethnologen fast umbrachte.
Im Gegensatz zur kanadischen Regierung, die sich in diesen Tagen bei den Ureinwohnern für ihre Assimilierungspolitik entschuldigt hat, die darauf ausgelegt war, „den Indianer im Kind zu töten“, vertraut die zuständige mexikanische Regionalverwaltung noch immer auf die staatliche Vormundschaft gegenüber den kleinen Lakandonen, denen Schulunterricht nach weißer Vorstellung verordnet wird, wodurch die Lebensweise des ehemaligen Kulturvolks systematisch unterhöhlt wird.
Im Bannkreis einer fremden „Welt im Wald“
Und so kommt es, dass die Erben der einst ruhmreichen Maya mit der Hochkultur ihrer Vorfahren kaum mehr in Verbindung stehen als etwa ein ägyptischer Fellache mit der Zivilisation der Pharaonen. Dennoch legen sie sich Rechenschaft über die Zerstörung ihrer Kultur ab und aufgrund ihrer Erfahrungen misstrauen sie dem Lebensstil der Weißen.
Als Resümee lässt sich festhalten: In seinem fesselnden Werk schildert der Ethnobotaniker Christian Rätsch seinen „Werdegang vom europäisch-distanzierten Wissenschaftler zum spirituell inspirierten Heilkundigen und anerkannten Kenner schamanischer Kulturen“ und zeichnet dabei auf, wie er nach und nach in den Bannkreis einer fremden „Welt im Wald“ gerät, die anders ist als die unsrige:
„Die Regenwälder sterben, und mit ihnen die Kulturen, die zu ihren tausend Wundern gehören. Noch bevor wir die ökologischen Geheimnisse der letzten Urwälder entdecken, wird das Land von den Traktoren der westlichen Industrienationen in eine Wüste verwandelt. Den Waldmenschen wird der Nährboden ihrer Kultur genommen: Das Wissen vom Wald verliert sich im Staub über dem Karst. Die Lakandonen sagen, die Seele eines Baumes gleicht der eines Menschen. Wird ein Baum gefällt, verliert sie ihren Kopf und steigt blutend in den Himmel auf. Die Lakandonen sind darum bemüht, mit den Bäumen in Harmonie zusammenzuleben.“
Lakandonen und Weiße, das waren und sind auch heute noch zwei grundverschiedene Welten, von denen man nicht behaupten kann, die eine wäre steinzeitlich und wild, die andere zivilisiert und fortgeschritten. Man kann höchstens von der Voraussetzung ausgehen, dass die Entwicklung in beiden Welten – irgendwann in grauer Vorzeit – in völlig entgegengesetzte Richtungen verlief. Welcher Entfaltungsprozess menschenwürdiger war, das ist die große Frage.
Die Erde wird das Waldsterben als Planet überleben. Nur die Menschheit und die gesamte Fauna wird's nicht mehr geben.