Entsprechend verändern sich die Größenverhältnisse in der Wahrnehmung. Nebensächlichkeiten gewinnen an Aufmerksamkeit, werden dadurch massiger und wirken, als würde man das Kleingedruckte vom Beipackzettel zum Aufmacher einer Tageszeitung erheben. Desweilen schrumpft beispielsweise der entscheidende Faktor Gelderwerb quasi durch defizitäre Zuwendung aufs bloß Anekdotische, ohne dadurch allerdings seine strukturierende Funktion zu verlieren. In „Wer alles weiß, hat keine Ahnung“ sieht das konkret so aus, dass Evers „Mein Leben in dreizehn Berufen“ tatsächlich in dreizehn Kapiteln verhandelt. Ob als Koch, Arbeiter in einer Hähnchenschlachterei, Eilzusteller, Rockstar oder dann halt Schriftsteller – der Mann kam herum und weiß wirklich, wovon er schreibt. Umso ulkiger die Auswahl an Themen wie Rennrodeln, runtergerockte T-Shirts, auch den Erinnerungen an die Taktiken der Mutter, dem Sohn verhasstes Essen unterzujubeln (aber es schmeckt überhaupt nicht nach …), kann Evers die ein oder andere Pointe abgewinnen. Dass er sich über den Google-Algorithmus lustig macht und Wortungetüme wie „Zwei-Faktor-Authentifizierung“ abfeiert, versteht sich für jemanden, der sich in der Tradition eines Buster Keaton durchs übertechnifizierte Gestrüpp unseres digitalen Zeitalters kämpft, natürlich von selbst! Wirklich interessant wird es, wenn der Autor akute Phänomene wie das immer noch uns alle bedrohende Coronavirus anpeilt – also das Nebensächliche letztendlich doch bei Seite schiebt, um dem zentralen Thema der letzten zwei Jahre Raum zu geben. Dabei verändert sich nicht nur der Ton, sondern auch die Struktur der Texte, die nun Tagebuch-Eintragungen ähneln. Und man begreift, dass mit einem Vater im Demenz-Pflegeheim nur noch verhalten Witze über „Lockdown-Wampen“ gerissen werden können. (Thk)
Horst Evers
Wer alles weiß, hat keine Ahnung.
Rowohlt Verlag, Berlin 2021.
240 S. 20,00 Euro
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