Um die kleinen Leute wollte Recep Tayyip Erdoğan sich kümmern, als er 2002 zum ersten Mal mit der AKP anlässlich der Parlamentswahlen kandidierte. Der Korruption entgegentreten, die Macht des Militärs beschneiden, waren weitere Anliegen. Tatsächlich durften die Kurden, als er an die Macht kam, ihre Sprache wieder sprechen. Ein Reformkurs setzte ein, was vielen Hoffnung gab. So glaubte auch der Journalist Şahin Alpay an eine Öffnung hin zu demokratischen Strukturen und schrieb damals, man solle Erdoğan den Friedensnobelpreis verleihen. Aber er wurde wie so viele bitter enttäuscht. Bald schon geriet Alpay aufgrund politischer Artikel ins Visier der Regierenden und 2016 nach dem Putschversuch sperrte man ihn aufgrund fadenscheiniger Beweise ins Gefängnis.
Osman Kavala, ein türkischer Mäzen, Partner des Goethe-Institutes und Förderer eines armenisch-türkischen Orchesters sowie Unterstützer kurdischer Künstler, sitzt seit 2017 in Haft. Er sei ein Staatsfeind und gegen die Einheit der Türkei, er wolle das Land spalten. Als Beweis legte der Staatsanwalt vor Gericht Bilder von Facebookposts von Kavala auf den Tisch. Auf einem der Fotos war eine Karte zu sehen, die die geografische Verbreitung von Bienenrassen im Nahen Osten zeigte, keineswegs neue Grenzen der Türkei.
Die Journalistin Christiane Schlötzer, die zwölf Jahre in Istanbul gelebt hat und für die Süddeutsche und den Zürcher Tages-Anzeiger berichtete, hat mit ihrem Buch ein Porträt der Stadt am Bosporus gezeichnet, indem sie 24 Einwohner Istanbuls ihre Geschichte erzählen lässt. Diese Biografien ordnet sie zu einem 24-Stunden-Zyklus, der morgens um sechs mit einem Besuch bei Satu Önder, der Frau eines Imams, beginnt und nach einem Tag und einer Nacht in den Morgenstunden bei einer geflüchteten Ägypterin endet. Diese Lebensläufe wissen nicht nur zu berühren, sie zeigen auch, wie sich Istanbul verändert hat, nicht nur politisch, auch was Tourismus angeht oder die Gentrifizierung verschiedener Viertel. Und die Autorin hat ein gutes Auge für die kleinen Nebensächlichkeiten, die ihr während der Gespräche auffallen, und die Reportagen-artigen Texte abrunden.
Auffällig ist, dass fast alle interviewten Personen der gehobenen Mittelschicht entstammen. Dementsprechend wird Istanbul vor allem aus Sicht von Architekten, Kuratoren, Unternehmer oder Intellektuellen beleuchtet. Aber jedes dieser Porträts hat es in sich und jeder Lebenslauf erzählt von Hoffnung auf bessere Zeiten. Viele wollen das Land und damit ihr geliebtes Istanbul verlassen, andere haben resigniert, harren aus, können ihrer Stadt aber durch die politischen Entwicklungen nicht mehr dieselbe Schönheit attestieren wie früher. Andere warten ab, sind der Meinung, dass es nicht immer so weitergehen kann.
„Istanbul – Ein Tag und eine Nacht“ skizziert eine Metropole jenseits der Shopping-Malls, jenseits der Oberflächen, jenseits der Sehenswürdigkeiten. Ein Buch, das lebensnah und lehrreich ist.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können