Wie der Titel „Weiße Nacht“ es vermuten lässt, ist im Roman der koreanischen Autorin Bae Suah die Realität außer Kraft gesetzt. Ihre erste Kurzgeschichte soll die Schriftstellerin versehentlich geschrieben haben, als sie das Zehnfingersystem am Computer übte. Und das sagt viel über die Handlung in ihrem nun auf Deutsch erschienen Roman aus. Auch hier geschehen Dinge ohne Absicht, ändern sich die Situationen sprunghaft, dürfen weder Leserin noch Leser ein herkömmlich logisches Erzählen erwarten.
Die Hauptfigur Ayami ist eine Schauspielerin ohne Engagement, die in einem Hörtheater arbeitet, dort die Kassetten einlegt und in das jeweilige Stück einführt. Es ist ihr letzter Abend, denn die ominöse Stiftung, die das Theater betreibt, hat die Schließung angeordnet. Um sich etwas Geld zu verdienen, willigt sie ein, einen Autor vom Flughafen abzuholen und ihm behilflich zu sein. Zwischendurch lernt sie bei Yoni Deutsch und geht mit dem ehemaligen Direktor des Hörtheaters essen. Über all dem liegt eine unerträgliche Hitze, in der die Autorin alles schmelzen lässt, die Plastikbecher, den Asphalt, die Seelen. Unter all dem aber liegt ein Buch, der Roman „Die blinde Eule“ des persischen Autors Sadeq Hedayat, in dem er die Fantasien, Träume, Erinnerungsfetzen, Rauschvisionen eines Federkastenmalers verwebt, um die existentielle Einsamkeit zu zeigen, in die die Menschen geworfen sind. Auch in Bae Suahs Roman sind die Figuren verloren, driften durch ihr Leben, wie kleine Boote ohne Ruder. Die meisten von ihnen sind Dichter, die keiner kennt oder unsichtbare Menschen, die niemanden überzeugen können und oft scheinen die einen stellvertretend für die anderen zu stehen. Genau wie bei Hedayat ist auch im Roman der Koreanerin die Wiederholung das Grundprinzip des Berichteten. Fast alle Frauen, die auftauchen, werden mit den gleichen Satzfragmenten beschrieben, Szenen wiederholen sich leicht variiert oder aus anderem Blickwinkel, Orte tauchen wieder auf, aber eben an anderer Stelle und immer wieder ist der Roman „Die blinde Eule“ präsent als Zitat, als Buch auf dem Regal, als Hörstück. Das entzieht einem den Boden der Wirklichkeit, weckt aber zugleich eine detektivische Freude daran, die Verbindungen aufzuschlüsseln. Ein Unterfangen, das weder gewünscht noch möglich ist. Selbst Momente der Vergangenheit zirkulieren im Jetzt, sodass der Theaterdirektor heute sich und jenem Bus hinterherschauen kann, den er vor Jahren einmal selbst gefahren hat. Es geht kein Wind, aber Flaggen wehen in dieser Stadt, die den Namen „Geheimnis“ trägt. Nachts sind die Geschäfte geschlossen, aber wenn Ayami etwas braucht, geht in einem Laden das Licht an und sie kann einkaufen.
„Weiße Nacht“ ist ein gut komponiertes, literarisch anspruchsvolles Spiel mit Surrealem, das wirklichkeitsnah auf die existentielle Leere moderner Gesellschaften abzielt. GuH
Bae Suah
Weiße Nacht.
Aus dem Koreanischen von Sebastian Bring.
Suhrkamp Verlag 2021.
159 S. 22 €
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können