Haben Sie schon einmal einen Starenschwarm beobachtet, wie er sich im Flug verändert? Der Dichter Jürgen Nendza hat diesem noch unerforschten Phänomen ein längeres Gedicht gewidmet, beschreibt die tänzerischen Verformungen einer solchen Vogelgruppierung, und entdeckt in dieser „walzenden Bewegung, / in Nachbarschaftshilfen punktiert / und aufsteigend zu einer Lawine / aus Schwärze“ jenes poetisch fließende Universum unter der Oberfläche, dem sich Gedichte anzunähern versuchen. „… und ich dachte, vielleicht / führen wir den Teil der Unendlichkeit fort, / der uns gehört, wenn wir Verbindungen schaffen / zwischen Körpern mit Zuckerstückchen, / die sich längst über uns verteilt hatten / zu den Umrissen eines Kontinents, …“ Dieser, genauso wie die anderen Texte, bringt poetische Reflexion und Außenwelt zusammen, das was unter dem Sichtbaren liegt und Sprache. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Erblickte im herkömmlichen Sinne schön zu nennen ist, wissen wir doch um die Schönheit des Verfalls. Und gar im Zerstörten kann die Fantasie paradoxerweise durch Assoziation jenseits des Unmuts eine ästhetische Landschaft generieren, die Kunst ist. Bei Nendza sind das Brachlandschaften übriggeblieben vom Tagebau. Das erste Kapitel des Bandes heißt dann auch „Abraum“. Auch „Auffliegendes Gras“ räumt ganze Sprachschichten ab, dekonstruiert die Welt, um zu brauchbarem Worterz vorzustoßen, wo das Gedicht darauf wartet, konstruiert zu werden.
Stilistisch dekliniert der 1957 in Essen geborene Dichter verschiedene Möglichkeiten des Poetologischen durch: vom Dreizeiler mit eingeschobenem Mittelvers über die elegante Parallelzeile zu kompakten Blockgedichten. Letztere beginnen und enden jeweils mit drei Punkten: Es sind Texte, die von kurzen Momenten der Konzentration handeln, mitten im Gedankenprozess einsetzen und wenig später bereits das Sprechen einstellen, minimale Belichtungen der Synapsenarbeit, die nach Bildlichkeit sucht, das Erblickte zu gestalten und sprachlich seinen Wurzeln anzunähern, dem Originären, aus dem es stammt „die Tulpen sind jetzt im Zustand der Worte“. Nicht nur wir wollen sehen, auch die Außenwelt will sich zeigen: „dann entdeckt dich ein Klopfen im Ohr“. Das Dunkle, das so erforscht werden will und das in uns wie in den Dingen schwingt, ist bei Nendza, auch wenn er das Traklsche „Es ist …“ einsetzt, kein Zustand, dem man einfach unterliegt. Vielmehr ruft es nach bewusster Tätigkeit, formt den Wunsch in uns, mehr zu sehen und einzugreifen. Nicht Vergänglichkeit ist das Thema, sondern die Durchforstung des darunterliegenden Zusammenhalts, aus dem Neues erwächst.
„Auffliegendes Gras“ ist von beeindruckender Poesie, voller raschelnder Bäume, die die Sprache im Gedicht pflanzt, voller Naturschauspiele, auf die Versbühne gebracht, eine Freude zu lesen.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können