Sind das noch Songs oder komplexe Klangkunstwerke? Diese Frage schießt einem durch den Kopf, während das neue Album von Björk läuft. Die Isländerin hat gerade „Fossora“ veröffentlicht. Es ist ihr zehntes Soloalbum seit ihrem Ausstieg bei The Sugarcubes im Jahr 1992. Es gab Zeiten, da kokettierte sie solo mit dem Mainstream – etwa als sie 1995 Betty Huttons 1951er Song „It’s Oh So Quiet“ coverte und sich hierfür von Spike Jonze ein denkwürdiges Musikvideo produzieren ließ. Es gibt aber auch die andere Björk Guðmundsdóttir. Die, die ihren ganz eigenen Weg verfolgt, fernab der Charts und des Kommerzes. Die hat sich auf „Fossora“ ausgetobt.
Der Titel stammt aus dem Lateinischen, wurde von „fossor“ (Gräber) falsch zum femininen „fossora“ (eigentlich: „fossoris“) hergeleitet und bedeutet demnach: Gräberin. Er soll zudem Wurzeln, Erdung, Liebe und Familie im Kontext einer unterirdischen Pilzwelt reflektieren. So zumindest steht es im Begleittext zum Album. Zwei Songs handeln auch von ihrer 2018 verstorbenen Mutter: das beeindruckende A-cappella-Chor-Stück „Sorrowful Soil“ und das mit von Björk programmierten Streichern unterlegte, intensive „Ancestress“.
Intensiv ist ein gutes Stichwort: Björk hat besonders anstrengende Klänge zutage gefördert. Der Grat zwischen herausfordernd und überfordernd ist hier ein sehr schmaler. Unterstützt wurde sie von ihren beiden Kindern Sindri und Ísadóra, dem Experimentalmusiker und -sänger Josiah Wise alias Serpentwithfeet, dem experimentellen indonesischen Duo Gabber Modus Operandi und dem Bassklarinetten-Sextett Murmuri, das häufig zum Einsatz kommt.
Weshalb man sich nicht nur die Frage nach Song oder Klangkunst stellen kann, sondern auch, ob Björk nicht schon eher experimentelle Klassik denn Pop kreiert hat. Der Auftakt ist ein gutes Beispiel: „Atopos“, Anfang September als erste Single ausgekoppelt, beginnt mit synkopischen Rhythmen und Björks typischer Gesangsart, bei der sie auf ihre eigene Weise Silben betont und in die Länge zieht. Die schräge Kombination aus Beats und Klarinette ist schon gewagt, dann aber hämmert es unaufhörlich aus den Boxen, als hätte Autechre das Zepter übernommen. Keine leichte Kost.
Wer klassische Songstrukturen vorzieht, wird mit diesen avantgardistischen Ideen seine Schwierigkeiten haben (s. „Mycelia“ oder das Techno-Gehämmer im Titelstück) und nur einige wenige Stücke finden, die den Erwartungen entsprechen. Bei aller Abstraktheit und Avantgarde sollte die Hörbarkeit nicht (zu oft) auf der Strecke bleiben. (Kai Florian Becker)
Anspieltipps: „Ovule“, „Sorrowful Soil“, „Victimhood“, „Her Mother’s House“
Bewertung: 6 von 10
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