Wenn sich Hamsa Dschamdschum mit Blut übergießen lässt, wirft er den Kopf ekstatisch umher. Seine indifferente Miene lässt es nicht vermuten, aber während es rot über seine Brustmuskeln fließt, ist der 21-Jährige glücklich. Allerdings provoziert die Freiheit des Augenblicks auch Hass: Wenn sie ihn wieder auf der Straße anpöbeln, geht Dschamdschum mit starrem Blick weiter.
Von seinen Fans wird der Künstler mit Lady Gaga verglichen. Für sie ist er ein Held, der Grenzen überschreitet, wenn er vor der Kamera in das Herz einer Kuh beißt. Doch Dschamdschum tut das in seiner Heimat Saudi-Arabien, was ihm nicht nur Zehntausende Follower, sondern auch die Aufmerksamkeit der reaktionären Staatsmacht bringt.
Wenig scheint dem Leben im Königreich Saudi-Arabien so fern wie Dschamdschums progressive und provokante Selbstdarstellung. Die Gesellschaft in dem Wüstenstaat orientiert sich am islamischen Wahhabismus. Konservativer geht es kaum. Unterhaltung ist der Lehre zufolge überflüssig, das öffentliche Nacktsein verboten – genau wie die Schauspielerei. Nahrung, als Gabe Gottes, ist heilig.
Wirkt schüchtern
Und dann kommt da plötzlich ein Jüngling mit einem Rindergerippe um die Brust daher und treibt den streng Gläubigen im Königreich den Puls hoch. «Es war wirklich hart, ohne Oberteil in der Öffentlichkeit aufzutauchen und Fleisch zu tragen», erinnert er sich an seine ersten Fotos auf der Plattform Instagram. Dort hat er heute mehr als 80 000 Follower – unter anderem die Behörden des Landes. Der Staat schaut auch zu, das weiß Dschamdschum.
Beim Interview in Dschidda – der vergleichsweise liberalen saudischen Hochburg – kommt ein Mann in das Restaurant, der keinen Oktopus auf dem Kopf und keine Schminke auf den vollen Wangen trägt. Das grüngelbe Hemd spannt leicht, Ring, Armreif und Uhr blitzen. Den großspurigen, bunten Rausch hat er nicht mitgebracht. Es setzt sich ein normaler, sogar etwas schüchtern wirkender Mann.
«Ich habe die Aufmerksamkeit schon immer geliebt», meint Dschamdschum, und sein Grinsen bekommt eine schwärmerische Note. In der Grundschule verkleidete er sich als Pu der Bär und wurde von anderen Kindern dafür mit Müll beworfen. An seinem 16. Geburtstag schließlich, so erzählt er es, verbrachte Dschamdschum zwölf Stunden mit einem Vogelkostüm in einem großen Käfig, bis er diesem zur symbolischen Auferstehung entstieg. Die Geburt einer Kunstfigur.
Versucht etwas zu bewirken
«Ich wollte Teil meiner Fantasie sein», erklärt der junge Mann. In seinen Porträts steht er selbst im Mittelpunkt. Und die Freiheit, sein zu können, wer und was man will.
Auf der Straße kreischen Dschamdschum Fremde hinterher, er sei verrückt. Doch das sei noch das Harmloseste. Mehr sagt er lieber nicht. Doch er will weitermachen, auch wegen seiner Fans. «Sie sehen in mir jemanden, der Menschen dazu ermutigt, zu sein wie sie sind.» Ob er eine ganze Gesellschaft ändern könne? Nein, aber einige Leute.
Dabei ist die saudische Gesellschaft in den vergangenen Jahren bereits in Bewegung gekommen. Mit dem sich andeutenden Generationswechsel im Königshaus in Riad gibt es plötzlich mehr und mehr Konzerte im Land und erstmals eine Comicmesse. Sogar ein erstes – bislang verbotenes – Kino soll es bald geben. Auch die Kunstszene blüht auf.
Weder weiblich noch männlich
«Kunst ist zu einer Mode geworden. Das ist jetzt etwas, das man in seinen Lebenslauf schreibt», sagt Mohammed Al-Amudi, der in Dschidda in einer der ältesten Kunstgalerien des Königreichs steht. Hier wird der 35-Jährige heute für eine seiner Skulpturen geehrt. Moderne Kunst werde mittlerweile von ganz oben gefördert, sagt er.
Unter den Ausstellern an diesem Abend sind auch Frauen wie Ola Hedschasi, die gerade von der Biennale aus Venedig kommt. Sie ist eine der Größen der Szene. Ihre Bilder sind von arabischen Gedichten beeinflusst und gelten im Königreich als einzigartig. Die Frage, ob sie es als Frau in der Kunst schwieriger habe, kann sie nicht nachvollziehen. Sie habe keine Probleme. Schließlich sagt sie: «Ein Gemälde ist weder weiblich noch männlich.»
Offen präsentieren
Schwierig sei vielmehr gewesen, sich Gehör zu verschaffen. «Aber Gott sei dank haben wir jetzt das Internet», sagt Hedschasi. Tatsächlich hat die Digitalisierung Strukturen geschaffen, über die Künstler in Saudi-Arabien sich erstmals einer breiten Öffentlichkeit präsentieren können. Das Internet ist die Triebfeder des zaghaften Wandels.
Auf Instagram haben die Künstler Tausende Follower. Jungs und Mädchen. Frauen und Männer. Heteros und Schwule. Superreiche und Taxifahrer. Von Dschidda über Riad bis in den letzten Winkel des Königreichs und darüber hinaus. Auch Hamsa Dschamdschums Kunst zieht Szenen an, die sich in Saudi-Arabien nicht offen ausdrücken können.
Trotz des gesellschaftlichen Fortschritts wurde er mit steigender Bekanntheit zuletzt vorsichtig. Die ganz «kranke Scheiße» veröffentliche er im Moment lieber nicht. Dschamdschum denkt immer wieder ans Auswandern. Dann könne er sich endlich ganz vor der Kamera ausziehen.
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