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Berlinale (5)Maria auf dem Lande: „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ von Emily Atef

Berlinale (5) / Maria auf dem Lande: „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ von Emily Atef
„Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ von Emily Atef, im Wettbewerb, 3/5  Foto: Pandora Film/Row Pictures

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Nach dem Cannes-Erfolg von „Plus que jamais“ ist Emily Atef zurück auf der Berlinale – mit einer Dreiecksbeziehungsgeschichte auf dem Lande, eingebettet in die Umbruchszeiten der Wende.

Nachdem ihr voriger Film „Plus que jamais“ – der letzte Film mit Gaspard Ulliel, in dem der danach bei einem Skiunfall tödlich verunglückte Schauspieler den Partner einer todkranken Vicky Krieps spielte – 2020 in Cannes in der „Un Certain Regard“-Selektion lief, entführt uns die deutsch-französisch-iranische Regisseurin mit „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ nun ins Deutschland der Wende.

Weitab vom Berliner Mauerfall, den die meisten Filme über die Wiedervereinigung etwas plakativ inszenieren, spielt Atefs Film auf dem Lande, wo der Einfall der westlichen neoliberalen Gesellschaft sich erstmals nur allmählich und spurenhaft manifestiert. Zu Beginn sehen wir Maria (Marlene Burow), die mit ihrem Freund Johannes (Cedric Eich) auf dem Dachboden eines Bauernhauses im dörflichen Thüringen lebt. Er will zur Schule, sie will nur im Bett lesen (auch wenn man nicht genau weiß, über welche Zeitspanne sich der Film erstreckt, ist es etwas verwunderlich, dass diese Leseratte den ganzen Film lang immer nur die „Brüder Karamasow“ liest).

Maria stammt aus dem Nachbardorf – also quasi aus einer anderen Welt –, wird aber mit einem sehr gütig-possessiven Gestus in die Familie hineinadoptiert (später schenkt ihr die Mutter Ohrringe, die sie eigentlich einer nie geborenen Tochter vererben wollte): Weil sie es „nicht immer so einfach hatte“, mit ihrer arbeitslosen Mutter und dem Vater, der jetzt eine 22-Jährige heiraten soll, ist sie in dieser ostdeutschen Familie mehr als willkommen.

Während der verlorene Sohn Hartmut aus dem Westen zurückkommt, um seinem Bruder Siegfried seine Modernisierungspläne für dessen Bauernhof zu unterbreiten, und Sohn Johannes sich dazu entscheidet, ein Fotografie-Studium in Leipzig zu machen, ist Maria zunehmend fasziniert von Henner (Felix Kramer), dem kauzig-charmanten Nachbarn, dessen zwei Rottweiler für Angst und Schrecken in der Gemeinschaft sorgen.

Hunde die bellen, beißen nicht, lautet ein dämliches Sprichwort – beißen tut ihr Besitzer allerdings schon, sodass Maria die Spuren ihrer leidenschaftlichen Affäre mit einem Seidenschal verdecken muss. Dass niemand sie darauf anspricht, wieso sie im Hochsommer diesen Schal niemals ablegt, soll wohl darauf hindeuten, dass diese Familie um jeden Preis den Schein wahren will; genauso kann man auch die Blindheit von Johannes deuten, der trotz einer Unmenge von Indizien Marias Untreue so wenig wahrnehmen will wie die Ermittler den gestohlenen Brief in Poes Kurzgeschichte.

Dass das alles nicht total im Klischee oder im Melodrama versackt – Henner ist brutal, liest aber Trakl, denn seit Goethe wohnen in jeder deutschen Brust zwei Seelen –, verdankt man der Ungreifbarkeit der Figuren: Ist Johannes wirklich so naiv, wie er sich gibt? Was fühlt Maria wirklich? Und wenn Henner über seine Mutter sagt, sie hätte sich „in den Büchern und im Schnaps verloren“, redet er dann nicht hauptsächlich über sich selbst?

Klar, der Dostojewski-Hypotext ist etwas voraussehbar und das Porträt eines Dorfes, das mit dem langsamen Einschleichen der neoliberalen Modernität – Schlagsahne aus der Dose, Zeitschriften über Kosmetik und Kleidung – überfordert ist und dessen Einwohner durch die Entwertung all ihrer Besitztümer in eine Existenzkrise fallen, ist ein wenig grob. Und auch dieser ewige Sommer mit seiner ewig goldenen Stunde mag mitunter ein bisschen too much sein. Aber Atefs Figurenzeichnung ist filigran, die Erzählung ergreifend, die Bildersprache präzise. Wie „Plus que jamais“ werden sich an „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ die Geister da scheiden, wo sich der emotionale Kern des Films befindet.