In den griechischen Bergen wird ein Neugeborenes in einer Hütte von einem Arzt gefunden. Das Kind wächst dort auf, wird zum jungen Mann, der einen Fremden auf einer Bergstraße tötet und deswegen im Knast landet, wo sich eine Wärterin (Agathe Bonitzer) in ihn verliebt. Die beiden werden ein Paar, bekommen ein Kind. Nachdem sie allerdings herausgefunden hat, dass er es war, der ihren Jugendfreund umgebracht hat, begeht sie Selbstmord. Er zieht nach Berlin, wird zum erfolgreichen Musiker, erblindet aber zunehmend.
Der mythologische Hypotext ist irgendwie gleichermaßen klar und versteckt. Wer nicht genau nach Indizien sucht (Stichwort Schwellfuß, was die altgriechische Bedeutung des Namens Ödipus ist) riskiert, die Neuerzählung nicht als solche wahrzunehmen – und trotz relativ geradliniger Erzählung nicht wirklich zu verstehen, um was es hier geht.
Die Geschichte des Ödipus wird bei Schanelec in einen wortkargen, bildgewaltigen Film verpackt, in dem im Vergleich zur Mythologie vieles anders ist – so bringt Ödipus beispielsweise nicht den Vater um, sondern einen Bekannten, der versucht, ihn zu küssen. Schanelec scheint die mythologische Geschichte thematisch vom Inzest zur Homophobie zu verlagern, so recht weiß sie mit diesem semantischen Faden aber nichts anzufangen, will das vielleicht auch gar nicht.
„Music“ beginnt genauso stumm wie Rolf de Heers „The Survival of Kindness“, gesprochen wird nach 30 Minuten Spielzeit zwar dann manchmal, aber eigentlich auch nicht sehr viel – und auch die Musik setzt erst spät und spärlich, dann aber immer konsequenter ein.
Schanelecs ästhetisch beeindruckender Film ist aber bei aller formaler Geschliffenheit leider nicht mehr als eine (mutige, konsequente und stimmige) Stilaufgabe. Was bleibt, sind schöne, poetische Bilder, tolle Kameraeinstellungen, das schöne, betörende Falsett von Aliocha Schneider und eine elliptische Erzählung mit vielen Leerstellen: „Music“ ist ein nahezu metaphysisches Werk über die Sinnlosigkeit menschlichen Treibens und die Tragik dieser ödipalen Figur, die vom Tod umgeben ist. Letztlich erhält man den Eindruck, dass die ganze Leere diesen Film irgendwann zu verschlucken droht.
Ein Solipsist an der Ostsee
Zwei Freunde fahren an die Ostsee, um dort in einer Art Privatresidenz an einem Portfolio fürs Studium, respektive am zweiten Roman zu werkeln. Leon (Thomas Schubert) ist ein grimmiger, etwas plumper Schriftsteller, sein Freund Felix (Langston Uibel) eine leicht naive Frohnatur.
Schon bei der Anfahrt häufen sich die Vorfälle: Das deutsche Auto gibt den Geist auf und als die beiden im Haus an der Ostsee, das Felix’ verstorbenem Vater gehörte, aufkreuzen, merken sie, dass sie nicht allein sein werden: Wegen einer Planungsungenauigkeit wird Nadja (Paula Beer), eine Freundin einer Kollegin der Mutter, auch da sein, die während der ersten beiden Nächte so laut und genussvoll vögelt, dass es dem grimmigen Leon zu bunt wird und dieser trotz Stechmücken draußen schläft.
Der enthusiastischen Nadja, die ihre nächtliche Aktivitäten mit der Begründung, die Mauern im Haus wären wohl tatsächlich sehr dünn, entschuldigt, tritt Leon von Beginn auf mürrisch entgegen. Als Felix, den hauptsächlich der eventuelle Dachschaden am Haus interessiert, dann auch noch mit Nadjas Stecher, den Rettungsschwimmer Devid (Enno Trebs), sympathisiert, hat Leon definitiv die Schnauze voll.
Von den gemütlichen Abenden zu viert oder Badeausflügen hält er sich mit einer Pauschalausrede („Die Arbeit erlaubt es nicht“) fern, die umso weniger überzeugt, da es schnell klar wird, dass er nicht so recht weiß, wohin mit seinem „Club Sandwich“ betitelten Manuskript – ein Manuskript, an dem Nadja, die an der Küste als Eisverkäuferin jobbt, plötzlich Interesse zeigt.
Wenn der Film dann abrupt ins Tragische kippt, tut er dies ohne Vorwarnung und mit einer Konsequenz, die beeindruckt, ohne dass Petzold auf eine streberhafte Art vermittelt, dass er Tragik und Komödie gleichermaßen gut beherrscht.
Denn an der Ostsee brennt es – aber das ist weit weg und Devid, dem Leon eigentlich sonst gar nicht zuhört und den er gewöhnlich nicht ernst nimmt, vermag es, die drei Touris zu beruhigen: Üblicherweise weht der Wind so, dass sie von den Waldbränden gar nicht betroffen sein werden – sie können (und werden) den roten Himmel also quasi als pittoresk-bedrohlichen Hintergrund zum Festschmaus draußen wahrnehmen. Das Umweltdebakel ist jedoch nicht das Einzige, was Leon nicht wahrnimmt – und irgendwie ärgert und berührt einen Petzolds Hauptfigur Figur gleichzeitig.
Dass dies funktioniert, liegt nicht nur daran, dass das Drehbuch fabelhaft ist und Petzolds unterhaltsame Geschichte eben subtil mehr erzählt als nur das, was sie zu sagen vorgibt (was der seit Jahren geschmacksunsichere Guardian-Kritiker Peter Bradshaw nicht geschnallt hat), sondern auch, weil die Chemie zwischen all den Darstellern in diesem huis-clos äußerst gut funktioniert – vor allem Paula Beers Nadja, die sich mal belustigt, mal verärgert über Leons melancholische Selbstbezogenheit zeigt, ist grandios.
Mit „Roter Himmel“ gelingt Berlinale-Stammgast Christian Petzold gleichzeitig eine leichtfüßige Liebesgeschichte, ein melancholisch-ironisches Porträt des leidenden Künstlers sowie eine Allegorie auf die Menschheit als selbstbezogene Spezies, die so sehr mit den eigenen Problemen beschäftigt ist, dass sie das größere Übel – sprich den brennenden Wald – vor lauter gefällten Manuskriptbäumen nicht mehr sieht.
Mein Maulwurf heißt Robert und ist ein Idiot
Weil sie mit Speed dealte, muss Leni Marlinowski (Thea Ehre) in den Knast. Nach einem Jahr gibt man ihr jedoch eine Chance auf frühzeitige Entlassung: Weil sie damals, als sie noch Leonard hieß, mit dem früher erfolgreichen DJ Victor Arth (Michael Sideris) abhing und die Bullen Victors neuen Job als Betreiber eines Onlineportals für Drogenverkauf eher weniger toll finden, soll Leni sich Undercover an Victor herantasten – die Kontaktaufnahme soll in einem Tanzunterricht, den Victor belegt, stattfinden.
Ihre Deckung verlangt, dass sie eine Beziehung mit dem schwulen Polizisten Robert (Timocin Ziegler) vortäuscht – da die beiden jedoch eine recht turbulente Vorgeschichte haben und Robert Leni nicht traut, müssen beide sich erst (wieder) aneinander gewöhnen.
Robert meint nämlich, Leni könne nicht lügen und habe deswegen nicht die nötige Chuzpe, um die Tarnung mit Überzeugung zu spielen – seine Bedenken gibt er nach einem ersten Testabend in der neuen Wohnung an seine Chefin weiter, die stoisch meint, Leni würde dieses Unterfangen mit niemand anders als ihm durchziehen. Nach und nach entwickelt sich eine Freundschaft zwischen Victor, dessen Freundin Nic und dem ungleichen Paar – und irgendwann greift Victor für seine krummen Dinge dann auf den arbeitslosen Robert zurück, der erst sein Chauffeur, dann sein Vertrauensmann wird.
Die unterschwellige Spannung, die bei gut erzählten Geschichten um verdeckte Ermittler unweigerlich entsteht, funktioniert genauso gut, wie Hochhäuslers in Graustichen gefilmte Ästhetik und das tolle Zusammenspiel der beiden Hauptdarsteller. Weniger überzeugend ist die Mischung aus Thriller und Trans-Beziehungskiste: Robert scheint Leni gegenüber echte Gefühle zu empfinden, kommt mit ihrer Geschlechtsumwandlung jedoch nicht so ganz klar.
Dass ausgerechnet der knallharte Victor Robert als Berater zur Seite stehen wird, soll einerseits bezeugen, wie allein der Undercover-Ermittler ist, andererseits zeigen, dass Victor mehr als nur ein bösartiger Krimineller ist. So ganz nimmt man dies trotz guter schauspielerischer Leistung nicht ab – Schuld ist die etwas zu oberflächliche Charakterzeichnung. So bleibt „Bis ans Ende der Nacht“ ein guter Thriller, der sein ästhetisches und semantisches Programm nicht ganz halten kann – dafür ist die Geschichte um Vertrauen und Verrat speziell am Ende dann doch ein klein wenig zu voraussehbar.
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