Eine junge Frau landet am Luxemburger Findel. Sie wirkt unsicher, scheint übervorsichtig, ängstlich. Da wir die Welt mehr oder weniger aus ihren Augen sehen, wirkt der Flughafen fremd, nahezu beklemmend – und dies, obwohl das Huis Clos, in dem der Kurzfilm „The Red Suitcase“ stattfindet, eigentlich jedem Luxemburger vertraut sein dürfte. Relativ schnell wird klar – die sechzehnjährige Frau soll in Luxemburg ihren zukünftigen Ehemann treffen, der Vater hat diese Zwangshochzeit organisiert und meint, ihr so ein besseres Leben zu garantieren. Die gerade mal sechzehnjährige Ariane (Nawelle Evad) hat jedoch andere Zukunftspläne.
„Als ich im September vom Masha Aminis Tod und den Protesten, die dadurch ausgelöst wurden, hörte, dachte ich natürlich sofort an ‚The Red Suitcase‘. Der Film wurde zwar einige Monate davor gedreht, aber das, um was es in Cyrus’ Film geht – um das Schicksal iranischer Frauen – ist bereits viel länger problematisch“, so die Schauspielerin Céline Camara. Aminis Weigerung, das Hijab zu tragen und die polizeiliche Gewalt, die ihr Ableben verschuldete, ist für Camara ein „Elektroschock für uns Westliche“ gewesen.
Ungewollt aktuell
„Darüber hinaus gibt es in ‚The Red Suitcase‘ eine gewisse Universalität – mit wenigen Wörtern und aussagekräftigen Bildern, u.a. von Frauen auf Hochglanzpapierwerbungen, sagt Cyrus sehr viel aus über die Conditio aller Frauen, deren Existenz auf sehr unterschiedliche Art weltweit prekär ist. Dass der Film durch die Oscar-Nominierung eine internationale Sichtbarkeit bekommt, freut mich deswegen umso mehr, weil abgesehen von der Conditio der iranischen Frau eben auch die Lebensbedingungen aller Frauen weltweit hier auf eine prägnante Art thematisiert werden.“
„Céline hat recht: Es geht um die Frauen im Iran, aber auch um das Frauenbild im Westen“, meint Jérôme Funk – durch die von Céline Camara bereits erwähnten Hochglanzwerbungen, von denen Frauen, ein bisschen wie in Jean Echenoz’ schönem Text „L’occupation des sols“, herabstrahlen, erhält man den Eindruck, dass auch westliche Frauen, trotz aller Gleichberechtigungsdiskursen, stets vom male gaze umrahmt, eingesperrt, determiniert bleiben.
„Interessant finde ich, dass Ariane ihr Kopftuch aus einem ganz anderen Grund abnimmt als Masha – Ariane würde es eigentlich lieber anbehalten“, meint Anne Klein. In der Tat nimmt die junge Iranerin ihr Hijab ab, weil sie damit inkognito wird, westlicher aussieht. „Es ist hier also weniger ein gewollt politisches Statement, auch wenn die Umstände, die sie dazu leiten, es abzulegen, natürlich hochpolitisch sind. Die Beziehung zum Hijab ist also mannigfaltig, auch wenn sie jedes Mal eine ganze Reihe an Konsequenzen hat und persönliche Entscheidungen fordert.“
Unbehaglich: Der Findel „by night“
Neshvads Film kommt ohne viel Dialoge aus; diese Stille wird mit einer ausdrucksstarken Bildersprache gefüllt. In einer der ersten Szenen werfen zwei Zollbeamte, gespielt von Anne Klein und Jérôme Funk, einen Blick in Arianes Koffer, finden dort eine Reihe von Zeichnungen: Ganz klar, die junge Frau möchte lieber Künstlerin sein als den ihr versprochenen, bedeutend älteren Iraner zu heiraten, der vor der Schiebetür, die den Strom der Reisenden in die menschenleeren Hallen des nächtlichen Findels entlässt, auf- und abgeht wie ein Tiger im Käfig.
Jérôme Funks Zollbeamte sieht sich die Zeichnungen der jungen Iranerin mit Interesse an: „Ich denke, keine unserer Figuren sollte der Figur von Ariane gegenüber feindlich gestimmt sein. Die Atmosphäre im Flughafen ist unbehaglich, die ganze Situation sorgt dafür, dass Ariane emotional angespannt ist – da galt es für uns weniger, noch eins daraufzulegen, als auf eine natürliche Art einen Kontrast zu dieser Situation zu schaffen.“
Anne Klein, aus London zugeschaltet, wo es gerade mal acht Uhr morgens ist, willigt ein: „Auf deine Figur trifft das zu, und wohl auch auf die Figur von Céline. Dein Zollbeamter versucht auf eine gutmütige Art, herauszufinden, was mit dieser jungen Frau nicht stimmt, meine scheint jedoch definitiv misstrauischer, so als würde sie das Kopftuch dieser Frau stören. Ich empfand es deswegen als recht schwierig, diese Beamtin zu spielen; es war befremdlich, eine Figur zu verkörpern, die fremdenfeindlich ist.“
Sprachenwirrwarr und Covid-Einschränkungen
Interessant fand Anne Klein zudem die sprachliche Situation am Drehort. „Einerseits fanden viele Gespräche in Luxemburgisch statt. Nawelle, die aus Paris kommt, verstand uns dann natürlich nicht, wodurch es ihr womöglich leichter fiel, sich in die Situation ihrer Figur hineinzuversetzen. Andererseits verstand ich rein gar nichts, wenn sie mit Cyrus redete – sodass es teilweise diese sprachliche Distanzierung zwischen uns allen gab.“
Der Filmdreh fand in einer winterlichen Nacht Anfang 2021 statt, zu einer Zeit, zu der es noch strenge Covid-Regelungen gab, sodass die beklemmende Atmosphäre des Films auch während des Drehs spürbar war – und das an einem Ort, der meistens für Freiheit und den Ausbruch aus dem Alltag steht: „Es war nachts, der Flughafen war menschenleer, wir mussten dennoch durch die Sicherheitskontrolle und die Covid-Einschränkungen waren noch so stark, dass wir uns nur in bestimmten Bereichen aufhalten und auch nicht mehr als drei Personen in einem Raum essen durften. Irgendwie fühlte es sich also so an, als hätte sich das beklemmende Gefühl des Gefangenseins, das der Film vermittelt, auch auf die Drehbedingungen übertragen“, erinnert sich Anne Kein.
„Ich glaube, dass wir alle etwas angespannt waren – und dass diese Atmosphäre dem Film guttat, auch wenn wir zwischendurch immer wieder unbeschwerte Momente der Komplizenschaft und des Lachens zwischen uns genießen konnten“, ergänzt Céline Camara, die im Film eine Angestellte an einem Geldwechselbüro spielt.
Ein Herzensprojekt
Für Anne Klein war bereits das Lesen des Drehbuchs eine sehr berührende Erfahrung, beim Casting wurde sich dann sehr viel ausgetauscht: „Cyrus stellte mir eine Menge Fragen. Im Gegensatz zu anderen Castings, wo oftmals der Eindruck entsteht, man wollte prüfen, ob wir alles richtig verstanden hätten, wollte Cyrus wirklich wissen, inwiefern sein Drehbuch Sinn machte, ob er Elemente anpassen müsste – er war vor allem neugierig, unsere Meinung und Deutung des Films zu kennen.“ Weswegen er sich auch, so Jérôme Funk, viel Zeit nahm, das Drehbuch mit seinen Schauspieler*innen zu diskutieren.
Diese Herangehensweise führte zu langen Proben, während denen, so Céline Camara, der Regisseur in Zusammenarbeit mit seinen Schauspieler*innen die Story der Figuren sowie deren Beziehung zur Hauptfigur herausarbeitete – „es gab ein schönes Gleichgewicht zwischen den Ideen, die Cyrus im Vorfeld hatte und der Art, diese im Laufe der gemeinsamen Arbeit weiter zu gestalten. Es war klar, wie sehr ihm dieses Projekt am Herzen liegt.“ „Diese Proben waren wohl auch deswegen notwendig, weil wir eben nachts in dieser relativ unbehaglichen Situation drehten und somit ziemlich unter Druck standen“, ergänzt Jérôme Funk.
Die drei Schauspieler*innen freut die Oscar-Nominierung wohl umso mehr – „überraschend und aufregend“, meint Anne Klein, „unerwartet und beeindruckend“ freut sich Céline Camara –, da es sich bei den dreien um junge Schauspieler*innen handelt, deren Karrieren erst vor ein paar Jahren begonnen haben.
Wie Neshvads Film, der am 7. März im Rahmen des LuxFilmFests gezeigt wird, bei den Oscars abschneidet, erfahren wir am 12. März. Bis dahin steht das iranische Kino weiterhin im Rampenlicht – zurzeit läuft „No Bears“ von Jafar Panahi, der kürzlich aus der Haft entlassen wurde, in unseren Kinos; ein anderer iranischer Kultregisseur, Asghar Farhadi, ist Präsident der internationalen Jury des diesjährigen LuxFilmFest.
Von der Existenzkrise auf die Bühne
Céline Camara ist eigentlich ausgebildete Juristin, hat hier in Luxemburg ab 2012 an der Uni unterrichtet, eine Doktorarbeit über europäisches Familienrecht begonnen und an einem Institut für juristische Forschung gearbeitet. Gleichzeitig ist die gebürtige Pariserin einer Improvisationstheatertruppe beigetreten – auch, um in Luxemburg Menschen kennenzulernen.
„2018 kam dann die Existenzkrise. Ich war immer stärker in unserer Theatertruppe impliziert, meine Doktorarbeit schritt nicht voran, ich stellte fest, dass ich nicht machte, was ich eigentlich machen wollte. Ich habe mir damals, als ich mein Studium begann, kaum Fragen gestellt, bereue diese Zeit auch keineswegs – aber mit 29 wurde mir klar, dass es an der Zeit wäre, das zu tun, was ich wirklich tun wollte und nicht auf Nummer sicher gehen sollte, um mir irgendwann ein Haus leisten zu können.“
Für Camara ist es nunmehr die vierte Spielzeit, gesehen haben dürfte man sie vor kurzem in Myriam Mullers letzter Shakespeare-Adaptierung „Songes d’une nuit …“ oder in der Hauptrolle von „Moi, je suis Rosa“ von Aude-Laurence Biver. In Brüssel spielt sie immer noch Impro-Theater, ansonsten ist sie hauptsächlich im hiesigen Theater und in der Filmwelt („Capitani“, „Le chemin du bonheur“) zu sehen.
„Ich genieße es, diese Welt zu entdecken. Ich habe meine Intermittence während des Covids bekommen – und finde es toll, hier mit so vielen verschiedenen Menschen arbeiten zu können. In Paris hätten sich für jemand wie mich, der über keine klassische Ausbildung verfügt, solche Gelegenheiten vielleicht nicht ergeben.“
(Noch) kein Vollzeitschauspieler, dafür aber flexibler
„Da die Schauspielerei immer noch nicht mein Vollzeitjob ist, kucke ich immer, was sich gerade so anbietet – Theaterstücke, Kurzfilme, Feature Films – und plane nicht so lange im Voraus. In Luxemburg gibt es kein Ensemble-Theater, sodass alles viel schnelllebiger abläuft. In einem Ensemble spielen gibt dir eine gewisse wirtschaftliche Stabilität, aber für mich, der eh als Freelancer arbeitet, ist vor allem die Spontaneität interessant.“
Kürzlich konnte man Jérôme Funk, dessen schauspielerische Ausbildung in Paris, Cambridge und Glasgow erfolgte, in der TNL-Produktion „Dekalog der Angst“ sehen, in der zehn Auszüge aus Literaturklassikern im Rahmen einer Produktion mit Schauspieler*innen aus sieben verschiedenen Ländern auf die Bühne gebracht wurden. „Meine Teilnahme an dieser Produktion ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Flexibilität des Freelancer-Daseins mir zugutekommt. Beim Casting-Aufruf gab es nicht so viel Konkurrenz, weil man relativ kurzfristig für drei Wochen nach Bulgarien reisen musste – die meisten Luxemburger Schauspieler*innen hatten ihre Spielzeit bereits geplant, sodass ich wohl einer der wenigen war, der überhaupt noch verfügbar war.“
Hier unterbricht ihn Anne Klein neckisch: „Verkauf dich nicht unter Wert!“, woraufhin Jérôme Funk lacht: „So war das nicht gemeint. Nur ist es halt so, dass, wenn man in Luxemburg Fuß gefasst hat, man sehr schnell von der lokalen Szene absorbiert wird, da die Menschen dazu neigen, immer und immer wieder mit dir zu arbeiten. Die Spielzeiten sind dann oft schnell ausgebucht und man ist letztlich bei spontaneren internationalen Angeboten nicht mehr verfügbar.“
Das Beste aus zwei Welten
Anne Klein, die ihr Schauspielstudium mit einem MA am Royal Conservatoire of Scotland abschloss und 2016 auf der Shortlist der BBC New Comedy Awards stand, kennt man hier in Luxemburg u.a. für ihre Rollen als namengebende Hauptfigur in „Mendy – Das Wusical“ oder in Samuel Hamens Neufassung von „Was heißt hier Liebe“.
Für Anne Klein wäre die Arbeit an einem Ensemble gar nicht interessant: „Ich genieße es, an verschiedenen Projekten mit verschiedenen Menschen zu arbeiten. Ich habe vor kurzem ein Theaterprojekt in Luxemburg abgelehnt, um mehr Zeit in London verbringen zu können, wo ich zwischen Stand-up, dem vierhändigen Schreiben an einem Theaterprojekt, der bevorstehenden Veröffentlichung von Musik und der gelegentlichen Arbeit beim Radio einfach sehr frei und abwechslungsreich arbeiten kann. Dennoch freue ich mich aber bereits, wieder in Luxemburg mit Menschen, deren Arbeit ich schätze, zusammenzuarbeiten.“
Die polyvalente Schauspielerin ist überaus zufrieden über das Gleichgewicht zwischen der Londoner Freiheit und der Möglichkeit, in ihrem Heimatland arbeiten zu können – und zeigt sich dankbar über die Art, wie in Luxemburg Kulturschaffende mittels der Intermittence finanziell unterstützt werden. „In Großbritannien sehe ich, wie sehr die Menschen ums Überleben als Schauspieler*in kämpfen müssen. Da wird man sich den Privilegien unserer Situation umso bewusster. Sozusagen verfüge ich über das Beste aus zwei Welten.“
Warten auf …
Alle drei scheinen sich auf der Bühne wohler zu finden als am Drehset – obschon sich die drei einig sind, dass die filmische Erfahrung außergewöhnlich ist. „Am Theater liebe ich dieses Zusammengehörigkeitsgefühl einer zeitweiligen Gemeinschaft“, so Anne Klein. Es ist einfach schön, den Menschen, mit denen man arbeitet, nach und nach völlig zu vertrauen, auch wenn man nach einer Produktion dann stets in eine Art schwarzes Loch fällt. Mir gefällt aber die Unmittelbarkeit des Films. Optimal wäre eigentlich eine TV-Show – dort arbeitet man stets mit den gleichen Leuten, macht aber auch andauernd was ganz anderes.“
Auch Céline Camaras Liebe gilt vor allem der Bühne: „Neben dem gemeinschaftlichen Gefühl hat die Theaterwelt auch etwas sehr Handwerkliches – man erlebt jede Produktionsetappe mit, bis zum Moment, wo der ganze Arbeitsprozess auf der Bühne vorgestellt wird.“ Die Filmwelt empfindet sie als faszinierender, da geheimnisvoller: „Was du tust ist ein kleiner Teil eines größeren Gefüges. Du bist ein zwar unabdingbares Rad im Getriebe – aber es gibt diese Distanz zum Endprodukt, die sich auch zeitlich manifestiert: Zwischen dem Dreh von ‚The Red Suitcase‘ und seiner Veröffentlichung sind zwei Jahre vergangen, und auch wenn man den Erfolg und die Freude jetzt teilen kann, ist man oft menschlich und auch beruflich bereits ganz woanders. Trotzdem mag ich es, beides zu haben – da ich etwas monomanisch arbeite, tun mir ein paar Drehtage zwischendurch gut.“
„Beides kann aus ganz verschiedenen Gründen erschöpfend sein“, meint Jérôme Funk. „Ich bevorzuge immer noch die Bühnenerfahrung, weil man die Reaktion des Publikums sofort erlebt und man nicht stets unterbrochen wird, sodass man viel leichter in die Welt des Stücks eintauchen kann. Was für mich beim Filmdreh echt anstrengend ist, sind die ewigen Wartezeiten. Ich denke, Schauspieler verbringen so in etwa 80 Prozent ihrer Zeit am Drehort mit Warten – was natürlich auch zu schönen menschlichen Erfahrungen führen kann.“
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