In Schweden wird am Sonntag gewählt. So etwas hat lange Jahre nicht wirklich viele Menschen interessiert. Doch dieses Mal ist es anders. Die rechten Schweden- demokraten wirbeln die Politlandschaft durcheinander – und mit ihr das Selbst- verständnis einer Nation, die einmal so stolz war auf ihre Sozialdemokratie und ihren Wohlfahrtsstaat. Historiker Lars Trägårdh über einen Staat, der vielleicht einfach nur normal wird.
Tageblatt: Ganz Europa schaut gerade nach Schweden. Das war nicht immer der Fall vor Wahlen, doch nun wird ein Rechtsruck erwartet – und das in diesem von der Sozialdemokratie so geprägten Wohlfahrtsstaat. Wie ist die Stimmung denn in Schweden selber?
Lars Trägårdh: Hier macht man sich auch Sorgen. Wir stehen vor einer sehr unklaren Situation. Die nationalistischen Schwedendemokraten werden zwischen 17 und 20 Prozent verortet, was eine stabile Mehrheit für die traditionellen Parteien unmöglich macht. So viel zu der eher technischen Sorge. Es gibt aber auch die tiefergehende Sorge um die nationale schwedische Identität. Schweden war lange Zeit bekannt für seine Stabilität, für seinen Wohlfahrtsstaat. Es wurde als moralische Supermacht gesehen, die sich rechten und rechtsextremen Tendenzen widersetzen konnte, die anderswo durchdrangen. Schweden wird nun normaler, nähert sich den anderen europäischen Staaten an.
Wie konnten die Schwedendemokraten so stark werden?
Vor allem die Sozialdemokraten, aber auch andere Parteien haben eine bestimmte Form der Politik vernachlässigt oder hinter sich gelassen. In den 1930er Jahren haben sich die schwedischen Sozialdemokraten den Mantel der nationalen Demokratie umgehängt und Schweden vor rechtsextremen nationalistischen Parteien bewahrt. Danach hatten wir einen demokratischen, linksgerichteten und bürgerlichen Nationalismus, der grundlegend war für die Entwicklung unseres Wohlfahrtsstaates. Der nordische Wohlfahrtsstaat ist nicht vorstellbar ohne dieses nationale Gemeinschaftsdenken.
Europaweit war dann nach dem Zweiten Weltkrieg eine Bewegung zu beobachten, die sich mit dem Fall der Mauer beschleunigte und wo linksgerichtete Parteien sich ein internationaleres Profil geben wollten. Gilt das auch für die so erfolgreichen schwedischen Sozialdemokraten?
Auch sie waren interessierter an Menschenrechten als an Bürgerrechten, sie wollten eine Rolle spielen in der internationalen Solidarität, bei der Entwicklungshilfe – und haben so das heimische Feld, wo neoliberale Regierungs- und Wirtschaftstheorien immer prägender wurden, teilweise freigemacht. Vor allem die Sozialdemokraten hörten auf, den Diskurs über die nationale Identität zu bestimmen.
So haben sie ein Vakuum geschaffen…
Ja, und in das sind die Schwedendemokraten eingedrungen. Sie haben Stimmen abgefangen, die sonst typischerweise an die Sozialdemokraten gegangen wären, vor allem von Gewerkschaftsmitgliedern. Anstatt dass alle von einer erweiterten, universelleren Bürgerschaft gesprochen haben, wie es sich die Sozialdemokraten erhofft hatten, endete es damit, dass die Identitätspolitik gestärkt wurde. Der Fokus wurde auf sexuelle und ethnische Minderheiten, auf Frauen gelegt. Der «weiße Arbeiter» wurde auf einmal aus verschiedenen Gründen als problematisch angesehen und in einer gewissen Art sogar dämonisiert: Er repräsentierte dann «Weißheit», das Patriarchat und so weiter. Am Ende bot die Sozialdemokratie diesen Menschen keine wirkliche politische Heimat mehr – also haben sie sich den Schwedendemokraten zugewandt.
Gibt es einen Weg zurück für die Sozialdemokraten in Schweden? Sie galten immer als Modell für Sozialdemokraten weltweit. Nun scheinen sie aber die Fehler ihrer europäischen Kollegen zu kopieren. Die übernehmen zwar oft die Ideen der Rechten, werden aber trotzdem nicht gewählt. Was machen sie falsch?
Das Problem ist, und das gilt für alle gemäßigten Parteien, dass sie die Schwedendemokraten kopiert haben, aber nur in einem negativen Sinn. Sie haben die restriktiveren Ideen in der Migrationspolitik übernommen, vor allem was die Flüchtlingspolitik angeht, aber es ist ihnen nicht gelungen, eine eigene glaubhafte, überzeugende und positive Geschichte zu erzählen, was Schweden bedeutet, was die schwedische Identität ausmacht, wie die Zukunft Schwedens aussieht. Kurzum: Was ist die Geschichte, wie erzählen wir Schweden – und genau das hat sie einmal so erfolgreich gemacht. Bislang sind sie nur eingetaucht in diese sorgenvolle, negative, auf die Kriminalität bezogene Erzählung über Migration. Und das ist ein Riesenfehler.
Darüber hinaus überrascht es, denn Schweden geht es doch blendend, oder?
Die harten Fakten zu Schweden sprechen auf jeden Fall eine klare Sprache. Neu angekommene Immigranten finden schneller Jobs, der Wirtschaft geht es extrem gut, die Arbeitslosenzahlen gehen zurück. Aber die Sozialdemokraten brachten es nicht fertig, diesen Teil der Geschichte hervorzuheben und in ihre Erzählung einzubauen. Sie haben nur reagiert.
Ist Immigration wirklich ein solch großes Problem in Schweden? Vom Ausland her betrachtet scheint über nichts anderes im Wahlkampf gesprochen zu werden.
Seit diesem Sommer mit seinen sehr hohen Temperaturen und den Waldbränden war ein Themenwechsel festzustellen – weg von der Migration, hin zum Klimaschutz. Auch das Gesundheitssystem ist ein großes Thema. Es gibt also genauso Wichtiges und noch Wichtigeres für die Schweden als die Migration. Wer also ein Bild von Schweden malt, sollte etwas aufpassen – die Wahrnehmung der politischen Debatte in Schweden ist eine andere im Ausland, als es tatsächlich in Schweden der Fall ist.
Nehmen sich die Schwedendemokraten dieser anderen Themen an?
Sie versuchen, ihre Ausrichtung auszuweiten, waren darauf aber offensichtlich nicht vorbereitet. Ihre Antwort zum Klimaschutz war wirklich schwach. Eigentlich haben sie nur gesagt, wir können jetzt nicht mehr bezahlen, nur weil wir diesen Sommer gutes Wetter hatten. Das ist nicht sehr überzeugend, besonders in Schweden nicht, wo es kaum jemanden gibt, der den Klimawandel anzweifelt. Was den Wohlfahrtsstaat angeht, sind sie besser aufgestellt, etwa wenn es um Renten geht, Gesundheitsversorgung oder Altersbetreuung – hier können sie die Kosten gegeneinander ausspielen, wie viel Immigration kostet und wie viel Geld im Gesundheitssektor fehlt.
Im Wahlkampf treten die Schwedendemokraten oft plump auf, reduzieren fast alles auf Zuwanderung. Die Schweden sind aber eine der hoch gebildetsten Nationen weltweit. Trotzdem finden immer mehr Wähler Gefallen an deren Auftreten. Wie passt das zusammen?
Eines sollte man nie vergessen: In der Politik braucht man ab und zu einfache Ideen. Und vor allem Klarheit. Und es ist ja so, dass alle demokratischen, politischen Entscheidungen immer noch im Nationalstaat erfolgen. Das haben die Schwedendemokraten ja so gut gemacht: Sie haben gesagt, schaut her, als Staat, als Regierung ist es dein Job, zuallererst nach den eigenen Bürgern zu schauen. Und sie waren die Ersten, die gesagt haben, dass es bei der Immigration Probleme gibt – und die gibt es ja auch: Es kostet, es kamen in kurzer Zeit sehr viele, es war zeitweise chaotisch, im Sommer und Herbst 2015 hatten wir keine geordnete Situation hier.
Die anderen haben die Probleme geleugnet?
Die Sozialdemokraten mussten ihre Politik erst umstellen. Trotzdem sind es die Schwedendemokraten, denen am ehesten zugetraut wird, diese Probleme zu lösen. Dieses Feld haben die Schwedendemokraten einerseits sehr geschickt besetzt. Andererseits haben die anderen Parteien, aus der Sicht vieler Wähler, hier völlig versagt: Sie wirkten nicht ehrlich, nicht klar und haben in den Augen vieler auch nicht die richtige Politik gemacht. Das heißt noch nicht, dass das alles Rassisten oder Europafeinde sind. Es heißt vielmehr, dass sie die alte Politik der Sozialdemokraten bevorzugten: eine regulierte Zuwanderungspolitik, die auf den Arbeitsmarkt zugeschnitten ist. Die Schwedendemokraten sind nicht so plump und roh, wie sie manchmal dargestellt werden, und viele Wähler haben den Eindruck, dass es die andere Seite ist, die manchmal einfach unrealistisch ist.
Wie geht es nach der Wahl weiter?
Vorhersagen sind nie sehr präzise, vor allem wenn es um die Schwedendemokraten geht. Sie kriegen immer mehr Sitze als erwartet. Kommt es so, werden wir wohl noch tiefer in eine nationale Identitätskrise schlittern. Dann werden alle darüber reden, ob das nun das Ende ist der langen Ära der Sozialdemokratie, ob das das Ende ist des schwedischen Modells, was auch immer das bedeuten mag. Was hier auf dem Spiel steht, ist also nicht nur eine weitere Wahl – die schwedischen Sozialdemokraten sind die weltweiten Vorzeigesozialdemokraten und haben demnach einen speziellen Status in der globalen Vorstellung, was Sozialdemokratie überhaupt ist.
Zur Person: Lars Trägårdh
Lars Trägårdh kennt man in Schweden. Der Historiker ist ein oft gefragter Kommentator des politischen Lebens in Zeitungen und im Fernsehen. Der ehemalige Unternehmer lehrte in den USA an der Columbia University und später in Schweden am Ersta Sköndal Bräcke University College. Trägårdh, der 1953 geboren wurde, ist auch Buchautor und war von 2011 bis 2013 unabhängiges Mitglied der Kommission zur Zukunft Schwedens unter dem damaligen Premier Fredrik Reinfeldt.
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