Liebes Tagebuch, ich schäme mich. Eigentlich sollte man keine fremden Tagebücher lesen. Die darin enthaltenen Gedanken sind persönlich, intim, und nicht für die breite Öffentlichkeit gedacht. Dennoch bin ich heute auf die Einträge meiner Kollegin Christelle gestoßen.
Ich mag ihre kleinen Anekdoten von zu Hause, wegen des hohen Wiedererkennungswerts. Kinder habe ich zwar keine. Dafür aber zwei Mitbewohner, die zeitweilig meine höchste Aufmerksamkeit erfordern. Wie du sicherlich weißt, lebe ich mit zwei Menschen im besten Alter zusammen. Beide sind seit einiger Zeit im Ruhestand und haben so ihre Routinen, die in Corona-Zeiten etwas zu kurz kommen.
Meine Rolle in der WG ist es, sie bei Laune zu halten. Seit mehr als fünf Jahrzehnten leben sie bereits zusammen. Das Geheimnis liegt in den spitzfindigen Konzepten, die sie entwickelt haben, um sich bei Bedarf aus dem Weg gehen zu können. Mittags zum Beispiel trifft sich meine Mut…, pardon, Mitbewohnerin mit Freundinnen zum Essen, während es sich mein Mitbewohner zu Hause mit Hund und Kindle gemütlich macht.
Jetsetter sind sie keine, doch zu Hause herumhocken liegt ihnen auch nicht im Blut. Nun, da aber all ihre Tätigkeiten mit einem Schlag dem Virus zum Opfer gefallen sind, machen sich nach mehr als einem Monat Quarantäne erste Entzugserscheinungen breit.
Als guter Soh…, pardon, Mitbewohner versuche ich natürlich, beide abzulenken. Nur ist die Palette der potenziellen Angebote derzeit recht begrenzt. Wenn du also glaubst, Eltern hätten es schwer, ihre Kinder zu beschäftigen, dann versuche es mal mit Senioren. Dabei konnte ich mir schon etwas von der Kollegin abschauen: Wenn beispielsweise die „Paw Patrol“ über ihre Mattscheibe flimmert, sind ihre Töchter zumindest zeitweilig beschäftigt. Meiner Mitbewohnerin habe ich daher nun „Downton Abbey“ schmackhaft gemacht. So inspiriert man sich halt an Tagebüchern anderer Menschen.
Meinen Mitbewohner hatte ich heute mit zum Einkaufen. Wie in jeder WG haben auch wir unseren eigenen Proviant. Wenn ich zu Beginn der Quarantäne aber aus ersichtlichen Gründen noch alleine unterwegs war, droht meinem Mitbewohner inzwischen eine beträchtliche Gehirnerschütterung durch die Decke, die ihm auf den Kopf fallen könnte.
Stell dir also meine Freude vor, als Xavier im Fernsehen die Öffnung weiterer Läden ankündigte. Jetzt müssen wir nur noch entscheiden, wer am Montag mit in den Baumarkt darf. Es findet sich sicher eine Schraube, die wir kaufen können. Und zur Feier des Tages gönnen wir uns einen Cheeseburger im Drive-in! Allein der Gedanke daran bereitet mir schon schlaflose Nächte.
Bis dahin muss ich ein Problem lösen: Verschiedene Eltern haben Schwierigkeiten, ihren Kindern Schutzmasken schmackhaft zu machen. Glaubst du wirklich, liebes Tagebuch, umgekehrt ist es leichter? Mein Vater hat sich in den letzten Tagen standhaft geweigert, eine Maske zu tragen. Lieber bleibt er im Wagen sitzen. Meine Mutter hingegen bekommt Herzklopfen, wenn in den Medien über eine Verlängerung der Sicherheitsmaßnahmen spekuliert wird. Allein die Maske ist ihr ein Greuel: zu heiß, zu unangenehm …
Falls du es noch nicht gemerkt hast, liebes Tagebuch: Meine Mitbewohner sind auch meine Eltern. Und ich bin unendlich dankbar dafür, sie noch bei mir wähnen zu dürfen. Wenn du also eine Idee hast, wie ich ihnen die Schutzmaske schmackhaft machen kann: Nur her damit!
Das Tageblatt-Tagebuch
Das Leben ist, wie es ist. Corona hin oder her. Klar, die Situation ist ernst. Aber vielleicht sollte man versuchen, ein wenig Normalität in diesem Ausnahmezustand zu wahren. Deshalb veröffentlicht das Tageblatt seit dem 16. März (s)ein Corona-Tagebuch. Geschildert werden darin persönliche Einschätzungen, Enttäuschungen und Erwartungen verschiedener Journalisten.
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