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Lust zu lesenVerbrannte Erde oder Neubeginn

Lust zu lesen / Verbrannte Erde oder Neubeginn
Stefan Weidner Foto: privat

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Spüren wir heute noch die Nachwehen des Terrorangriffs auf das World Trade Center am 11. September 2001? Der Publizist und Schriftsteller Stefan Weidner sagt ja. Wir spüren nicht nur die Auswirkungen, vielmehr ist unsere gesamte politische und wirtschaftliche Gegenwart von diesem Attentat geprägt. Ein spannendes und mehr als plausibles Buch findet Guy Helminger.

Die Welle der Solidarität mit den USA, die das Attentat auf das Herz des Kapitalismus mit sich brachte, hätte die Basis für einen weltweiten Neuanfang sein können, eine Grundlage für eine sozialere Marktwirtschaft, eine Möglichkeit, sich den Zielen, die längst auf der Tagesordnung standen, zu widmen: Klimawandel, Rassismus, Armutsbekämpfung. Stattdessen fokussierte sich die Bush-Regierung wie im Kalten Krieg auf einen Gegenschlag, mit dem Argument, man wolle den Terror bekämpfen. Und dazu schienen alle Mittel recht zu sein, selbst den Einmarsch in Irak rechtfertigende Lügen, wie wir mittlerweile wissen. Die Konsequenzen dauern bis heute an. Alle wichtigen Punkte auf der politischen Agenda mussten der „Terrorbekämpfung“ weichen. Der Irak liegt am Boden. Aus der verbotenen Baath-Partei und der Auflösung des damaligen Militärs entstand der IS, der im Syrienkrieg nach wie vor eine Rolle spielt und verantwortlich für die schlimmsten Verbrechen im 21. Jahrhundert zeichnet. Weltweit resignieren Millionen von Flüchtlingen in Camps. Und unsere Gesellschaften haben in puncto „Sicherheit“ aufgerüstet und damit unsere Freiheit massiv beschnitten. Hat Osama Bin Laden den Kampf gewonnen?

Stefan Weidner hat seinem Buch die Form eines Triptychons gegeben, beschreibt die Zeit vor 9/11, wie der Hass auf die USA in der muslimischen Welt entstand, beschreibt, wie islamische Gruppen bereits viel früher Terrorismus als Kampf gegen die Kolonisatoren einsetzten, um in einem zweiten Teil die unmittelbaren Konsequenzen des Attentats aufzuarbeiten und in einem dritten Abschnitt einen Ausblick zu geben. Diese quasi religiöse Dreiteilung findet nicht nur ihren Grund im logischen Aufbau der Thematik, sondern auch eine Verbindung im heilsgeschichtlichen Ansatz beider Lager. Während Osama Bin Laden den Islam als Befreiungstheologie gegen den Imperialismus postulierte, schöpfte die Bush-Regierung aus dem uralten Gedanken der westlichen Überlegenheit und der damit verbundenen wirtschaftlichen Globalisierung die Rechtfertigung ihrer „Bekehrungsmission“.

„Ground Zero“ beschreibt sachlich, gut recherchiert und fundiert die Zusammenhänge, die zum Verständnis unserer Gegenwart nötig sind. Das Buch zieht Linien vom Arabischen Frühling über die Theorien vom angeblichen Kampf der Kulturen bis zum Afghanistankrieg, vom damaligen Attentat zum heutigen Rechtspopulismus, genau wie es Links herstellt zwischen Globalisierung und Coronapandemie. Ein Essay voller erhellender Momente und Wendungen.

Stefan Weidner

Ground Zero. 9/11 und die Geburt der Gegenwart. Hanser Verlag, 2021. 256 S., 23 €