Tageblatt: Prof. Markus Miessen, Sie sind der neue Mann am Lehrstuhl für Stadterneuerung in Esch. Wie gehen Sie Ihre neue Aufgabe an?
Prof. Markus Miessen: Ich bin jetzt damit beschäftigt, den Aufbau des Lehrstuhls zu planen. Ich habe die Stelle zum 1. Januar angetreten und mich bis jetzt mit den administrativen Strukturen beschäftigt. Jetzt fange ich an, die Situation zu sondieren. Sofern es Corona erlaubt, wollte ich Ende Februar, Anfang März eine zweiwöchige Fahrradtour durch die Region Esch machen und dabei Leute treffen.
Eine Fahrradtour?
Ich fahre insgesamt sehr viel Fahrrad (siehe auch Kopf des Tages). Das hat auch viel mit meiner Herangehensweise an Architektur und Städtebau zu tun. Meine Forschung setzt sich eher mit „Every-Day-Spaces“ als mit „Großplan-Attitüde“ auseinander. Ich schaue nicht so sehr von oben auf die Stadt herunter, sondern bewege mich lieber dort, wo sich die meisten Menschen bewegen. Ich versuche also, die Stadt aus der Perspektive der Straße zu verstehen. Für mich ist die Nähe zum Bürger und das Verständnis von Alltagsräumen sehr wichtig. Das war wohl auch ein Kriterium, weshalb ich ausgesucht wurde.
Mit „Rout Lëns“ und „Quartier Metzeschmelz“ entstehen neue Stadtviertel in Esch. Die Projekte sind 2020 vorgestellt worden. Haben Sie eine Art Mitspracherecht oder Einfluss auf deren Entwicklung?
Das ist natürlich bei Großbauprojekten, die bereits vorgestellt sind, schwierig beziehungsweise schwieriger. Aber auch im Nachhinein kann man kleinere Strukturen schaffen. Ich nehme mal als Beispiel den Campus in Belval. Der ist nicht wirklich als Lebensraum erkennbar, denn ab circa 18.00 Uhr ist er mehr oder weniger tot. Da kann man aber nachsteuern und durch kleinere Nutzung sicherlich vielversprechende Richtungen einschlagen. Im kleinen Maßstab quasi durch „Akupunktur“ Veränderung schaffen und gleichzeitig eine Verbindung herstellen zwischen der Stadt Esch und dem Campus. Das ist ein Grund, warum dieser Lehrstuhl für Universität und Stadt wichtig ist.
Belval kann man als Vorbild nehmen für die neuen Stadtviertel. Die Fehler, die dort gemacht wurden, sollen nun vermieden werden. Wo liegt der Schwerpunkt des Lehrstuhls? Belval nachjustieren, die neuen Stadtviertel mitzugestalten oder aber das „alte“ mit dem „neuen“ Esch zusammenwachsen zu lassen?
Es gibt derzeit noch kein konkretes Zukunftsprojekt als solches, da ich mich erst in der Einarbeitung befinde. Um das zu konkretisieren, ist es zu früh. Was ich weiß, ist, dass es sich in der Region abspielen wird. Und wenn ich jetzt von Belval spreche, dann nehme ich das als Beispiel dafür. Belval ist ja wirklich so ein Ort, der für sich allein steht und keinen Anschluss hat. Diese Gefahr besteht sehr oft bei Neubausituationen. Wichtig ist, Ansätze herauszuarbeiten, wie man mit solchen Situationen im Großraum Esch umgehen kann. Ich werde mich also in den nächsten Jahren nicht nur mit einem Ort beschäftigen, sondern versuchen, eine Art „Toolbox“ zu schaffen, wie man mit diesen Orten in der Region umgehen kann. Der Ansatz dabei ist Partizipation.
Die Herangehensweise ist also der direkte Austausch mit den Menschen
Was genau verstehen Sie unter Partizipation?
Es geht um die Frage, wie Menschen örtlich und räumlich zusammenkommen. Das ist etwas unkonkret, aber schlussendlich geht es immer um die soziopolitische Dimension von Architektur und Stadtplanung. Und deshalb wird es auch für mich und mein Team extrem wichtig sein, dass wir einen Satelliten in der Stadt haben. Wir möchten primär vor Ort arbeiten. Idealerweise in einem kleinen Ladenlokal. Keine zehn Jahre an einem Ort, sondern etwas, was auch migrieren kann innerhalb der Region. Zu den Orten, mit denen wir uns gerade beschäftigten. Die Herangehensweise ist also der direkte Austausch mit den Menschen. Mit dem Ziel, ein Archiv über lokale Identität aufzubauen. Es geht nicht darum, Menschen ein paar Fragebögen ausfüllen zu lassen. Das ist nicht mein Verständnis von Partizipation. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass das, was wir machen, offen kommuniziert wird. Dazu wird ein Podcast entstehen. Der Arbeitsprozess soll offen sein und von außen beeinflusst werden. Je weniger verschlossen dieser Prozess ist, desto mehr Informationen, Material und Wissen wir von den Bürgern bekommen. Ich würde gerne mit einer Reihe von Interviews mit Leuten im Alter zwischen 70 und 90 Jahren anfangen. Also denjenigen Menschen, die den Transformationsprozess der Stadt erlebt haben.
Wie kommt man eigentlich dazu, Berlin gegen – um in der Aktualität rund um einen Eintrag im neuen Reiseführer von Marco Polo zu bleiben – ein „Proletennest“ wie Esch einzutauschen?
(lacht) Wissen Sie, alle reden immer über Berlin und seine interessanten städtischen Strukturen und Angebote. Aber ich komme aus dem Rheinland und da ist es ähnlich wie in Luxemburg. Im Umkreis von 100 Kilometern gibt es gefühlt 20 Städte. Um Berlin herum ist einfach nichts. Luxemburg ist das Herzstück von Europa. Da ich viel zum Thema urbane Brachen gearbeitet habe, interessiert mich Esch zudem ganz besonders. Jedenfalls habe ich Esch bei meinen bisherigen Besuchen nicht als „Proletenort“ wahrgenommen. (lacht) In Schottland hat mich die Arbeiterstadt Glasgow auch immer stärker interessiert als die königliche Touristenstadt Edinburgh.
Man kann nicht über Esch sprechen, wenn man die portugiesischen Einflüsse außen vor lässt
Esch hat einen hohen Ausländeranteil, mit, wenn man es so formulieren darf, einer Parallelwelt. Das soziale Gefälle ist groß. Was bedeutet das für die Städteplanung, für den öffentlichen Raum?
Das macht die Sache zusätzlich interessant. Der Begriff öffentlicher Raum gefällt mir nicht besonders, es sind eher Öffentlichkeiten. Und die haben weniger mit Architektur zu tun, als so mancher Architekt denkt. Sondern mehr mit der Frage: Wie schaffe ich soziale, kulturelle Anreize, damit ein Ort zum Ankerpunkt wird. Ein Ankerpunkt kann ein kleiner Bücherladen sein, die neue Kunsthalle oder eine Kneipe. Die Kneipe zum Beispiel ist für mich ein wichtigerer öffentlicher Raum als ein 20 mal 30 Meter großer Platz mit vier Parkbänken zwischen zwei neuen Gebäuden. In England heißt eine Kneipe nicht umsonst Pub. Es ist die Abkürzung für „public room“. Das klingt jetzt ein bisschen platt, wenn einer von der Uni kommt und sagt, eine Kneipe ist ein öffentlicher Raum. Aber sie ist extrem wichtig für die Identität von Orten. Und auf dieser Ebene muss man rangehen und dort hat Esch halt viel zu bieten. Meine Aufgabe ist es also, darüber nachzudenken, wie man diese Ankerpunkte schaffen kann. Und dafür muss man die Leute mitnehmen, um zu verstehen, was die identitären Einflüsse sind. Idealerweise also braucht es in meinem Team jemanden, der auch Portugiesisch spricht. Denn man kann nicht über Esch sprechen, wenn man die portugiesischen Einflüsse außen vor lässt.
Das problem mit dem Marco Polo Artikel ist, es stimmt, ganz ehrlich machen sie eine Umfrage,Wär kommt nach Esch flanieren shoppen?Esch das war mal.Und warum immer Städteplaner aus dem Ausland??Warum in die ferne schweifen die guten sind sooooo nah.. kuck Kulturfabrik...
Ein Stadtplanungsforscher aus der "failed city" Berlin, wo es schon als ernstzunehmendes "Konzept" gilt, wenn Drogendealer im Park ihren Standplatz vom Ordnungsamt mit lila Kreide markiert bekommen? Da braucht es nicht viel Fantasie, um sich die "radikale Veränderung" Eschs in den nächsten Jahren vorzustellen.