Es wurde bereits viel darüber diskutiert, wie unverantwortlich die Organisatoren des diesjährigen Cannes-Festivals eigentlich sind. Da, wo andere Festivals bereits recht früh, in vorauseilender Vorsicht sozusagen, ihre Absage bekannt gaben, beharrten die Organisatoren hartnäckig darauf, ihr Festival aufzuziehen, verlegten den Termin in den Juli und verkündeten, als dann klar wurde, dass das Festival stattfinden würde, die verschiedenen Kinosäle zu 100 Prozent auslasten zu wollen – adieu Social Distancing, dafür gelten Maskenpflicht und „Pass sanitaire“ (Impf- oder Genesungs- oder negativer Testnachweis), für das Festival wurde sogar eigens ein Testzentrum aufgebaut, in dem man sich umsonst und uneingeschränkt testen lassen kann.
Allerdings wird der französische „Pass sanitaire“, der nach Macrons Rede am Montag demnächst auf (fast) sämtliche Alltagsaktivitäten ausgeweitet werden soll, nur an verschiedenen Stellen verlangt: Einige der prunkvollsten Säle wie die Salle Debussy oder Lumière verlangen keinen Nachweis – ganz so, als würde das Virus den roten Teppich oder VIPs scheuen. Es ist schon skurril: Da, wo die Rockhal noch im Mai im Rahmen eines Konzerts mit einer Auslastung von etwa 16 Prozent ein relativ umständliches Hygienekonzept mit Schnelltest vor Ort auf die Beine stellte, darf der Festivalgänger einfach in die Salle Debussy hineinspazieren. Auf Eigenverantwortung zu setzen, wo die europäischen Leader die letzten 16 Monate in die Rolle autoritärer Schullehrer schlüpften und sich beim Ausüben dieser Zeigefingerpolitik sichtlich wohlfühlten, ist irgendwie schön – aber halt auch wahnsinnig bescheuert.
Diese organisatorische Schlampigkeit, die auf eine sehr klischeehafte Art sehr französisch ist, soll dennoch nicht von der eigentlichen Debatte ablenken: Die Entscheidung, das Cannes-Festival nicht nur stattfinden zu lassen, sondern es so aufzuziehen, wie Thierry Frémaux es tut, mag vielleicht nicht ganz risikofrei sein, könnte aber, sollte es zu keinem Cluster oder überdurchschnittlich vielen Infektionen kommen, wegweisend für den Kultursektor sein – und darüber hinaus zeigen, dass die Schließungen der Kulturhäuser und die drastischen Hygienekonzepte, die den Kulturbereich am strengsten trafen, nicht aus reiner Vorsicht erfolgten, sondern ganz klar beabsichtigen, den hedonistischen Kulturschaffenden zu zeigen, wie entbehrlich sie eigentlich sind.
Das Festival de Cannes (fast) genau so aufzuziehen, als hätte es die Pandemie nicht gegeben, birgt natürlich auch wirtschaftliche Interessen – die Filmindustrie braucht wieder Zukunftsperspektiven –, es ist aber auch ein Mittelfinger an die europäischen Regierungen, die über ein Jahr die Pandemie nutzten, um ganze Bereiche des Alltagslebens nach binären, inhumanen Leistungs- und Produktivitätskriterien einzuteilen: Kultur wurde als „unwesentlich“ abgestempelt, ausbeuterische Firmen als „wesentlich“.
Das Festival de Cannes zeigt im Gegenteil, wie unentbehrlich Kultur eigentlich ist: Während der Pandemie waren viele von uns in einer solipsistischen Welt gefangen und nur noch um die eigene Gesundheit, vielleicht noch um die der Nahestehenden besorgt, andere Brandherde standen auf Stand-by. In Cannes reist man in zehn Tagen einmal um die Welt – diese Reise, die den Zuschauer in überlaufene französische Krankenhäuser oder durch die von Armut und Lebensüberdrüssigkeit gepflasterten Straßen von Jekaterinburg führt, ihm die (Über-)Lebensbedingungen der Reinigungskräfte auf einer französisch-britischen Fähre oder des Bordpersonals einer Low-Cost-Airline zeigt, mag manchmal unangenehm sein, sie konfrontiert uns aber mit einer Außenwelt, die während 16 Monaten ausgeklammert werden konnte.
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