Am Nordatlantik in einer kleinen bretonischen Hafenstadt geht Sperber spazieren, als ihn eine fremde Frau auf den Mund küsst und sofort wieder verschwindet. Nun ist dieser Sperber auf den ersten Blick kein sehr attraktiver Mann, bereits in die Jahre gekommen, wortkarg, eher Einsiedler als gesellschaftstauglich. Einer, der bereits mit seiner Existenz abgeschlossen hat. Aber dieser Kuss haucht ihm wieder Leben ein. Zwar gesteht er sich nicht ein, dass ihn diese Lippen tief berührt haben und er schimpft zu Hause, über die Aufdringlichkeit der Dame, beginnt aber trotzdem wenig später, nach ihr zu suchen. Einmal erblickt er sie von weitem am Meer, beim zweiten Mal sitzt sie im Bus und entschwindet. Sperber betrinkt sich daraufhin, wacht morgens neben einer anderen Frau auf. Aber mit den Tagen reift sein Entschluss, der Fremden nach Paris hinterher zu reisen.
Was wie eine Liebesgeschichte klingt, ist auch eine. Allerdings ist sie von Anfang an in ein fiebriges, irreales Licht getaucht, das jeglichen Realismus unterwandert. Das liegt nicht nur am französischen Maler und Dichter Max Jacob, dessen Bilder im Roman auftauchen, genau wie das Sammellager, in dem er 1944 starb und das heute ein Komplex sozialen Wohnungsbaus in Drancy ist, aber auch. Denn mit seinem Namen verbinden wir Aspekte des Symbolismus wie des Surrealismus. Und genau das scheint die durchlässige Basis zu sein, auf der Anne Weber ihre Geschichte flirren und flackern lässt.
Schon während Sperber die Fremde sucht, erst recht nachdem er sie in Paris gefunden hat, überkommt die Leserin, den Leser das Gefühl, dass hier nicht die Welt, wie man sie kennt, beschrieben wird, auch wenn alles erkennbar ist. Die Gegenstände weisen eine Transparenz auf, die über die Dinge hinausweist, ohne aber mehr als Ahnung zu bieten. Erzählt wird von Geräuschen, aber so, dass sie nicht zur Leserin, zum Leser durchdringen und eine Ahnung von Stille entsteht. Diese Liebe scheint nicht von dieser Welt zu sein. Oder aber wir als Lesende haben die Welt noch nie in ihrer Ganzheit wahrgenommen, weil wir immer an ihrer Oberfläche haften blieben. Ist der Teufel in Form einer Brunnenstatue nur ein Kunstwerk oder lebt er wirklich darin? Und wo halten sich all die Toten auf, die wir vermissen oder auch nicht? Womöglich sind auch sie von dieser Welt, wenn wir nur weit genug gehen und Augen haben, um zu sehen.
Sperber jedenfalls macht sich auf den Weg, als ihm seine Geliebte, schon kurz nachdem er sie gefunden hat, wieder entrissen wird. Ein sprachloser Orpheus, der das Totenreich aufsucht und nicht weiß, wie er es anstellen soll, seine Eurydike aus der Zwischenwelt zu holen.
„Tal der Herrlichkeiten“ ist nicht nur stilistisch ein solches. Der Roman schafft es, das Unbeschreibbare einzufangen.
Anne Weber
Tal der Herrlichkeiten
Matthes & Seitz 2021
220 S., 20 €
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