Hohe Zinsen, Krieg, Inflation: Die europäische Wirtschaft muss sich derzeit einigen Herausforderungen stellen. Auch in Luxemburg zeigte der Pfeil im vergangene Quartal nach unten: Die Statistikbehörde Statec meldete am Donnerstag, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von April bis Juni um 0,1 Prozent gegenüber dem ersten Quartal des Jahres schrumpfte. Im Jahresvergleich sank die Aktivität sogar um 1,7 Prozent. Zudem korrigierten die Statistiker Berechnungen aus der Vergangenheit – nach unten. Bastien Larue, Ökonom bei Statec, erklärt, wie die Zahlen zu interpretieren sind und wie sie erhoben werden.
Tageblatt: Was misst das Bruttoinlandsprodukt (BIP) eigentlich?
Bastien Larue: Das BIP misst den Mehrwert, den eine Volkswirtschaft produziert. Es ist ein synthetischer Indikator für die Wirtschaftsaktivität. Und nichts mehr.
In Ihrem Bericht wird für die Bauwirtschaft beispielsweise ein Wert von „-3,3“ angegeben. Was bedeutet das?
Das ist die Bruttowertschöpfung. Das ist die Differenz zwischen Produktion und den Vorleistungen, die erbracht werden müssen. Also der Unterschied zwischen Input und Output. Minus 3,3 bedeutet also, dass die allgemeine Aktivität der Produktion im Bausektor zurückgeht. Das geschieht in diesem Sektor schon seit einigen Quartalen. Seit fünf Quartalen hintereinander, um genau zu sein.
Weshalb haben Sie Ihre BIP-Berechnungen fürs vergangene Jahr jetzt korrigiert?
Wir überarbeiten nachträglich immer die jährlichen Daten der vergangenen vier Jahre, also von 2019 bis 2022. Das ist eine traditionelle Prozedur, im September werden die überarbeiteten Ergebnisse dann veröffentlicht.
Auf welchen Daten basieren Ihre Berechnungen?
Wir haben viele Quellen. Wir haben spezielle Umfragen dafür und auch Daten von Behörden, zum Beispiel, was Firmen-Umsätze angeht. Es ist ein Mix verschiedener Indikatoren, aus denen dann das BIP berechnet wird.
Könnten einzelne Branchen bewusst falsche Daten liefern?
Es ist nicht an uns, die Daten zu interpretieren oder extrapolieren. Aber unsere Berechnung ist eine breite Untersuchung mit vielen Indikatoren und auch Gegenproben. In der Bauwirtschaft geht beispielsweise auch die Beschäftigung zurück, und das passt zu dem, was wir in den Umfragen sehen. Der Bausektor wird von den hohen Zinsraten beeinträchtigt. Der Branche geht es im Moment nicht gut.
Wie viel Angst müssen wir haben?
Zurzeit ist die allgemeine Einschätzung, dass die Aktivitäten schleppend sind. Wir haben eine ziemliche Stagnation, das beobachten wir in Luxemburg und in der gesamten Eurozone.
Wie wahrscheinlich ist es, dass es in den nächsten Quartalen besser wird?
Wir können zurzeit nicht optimistisch sein. Wir erwarten keinen Aufschwung im dritten oder vierten Quartal. Wenn wir uns die Antworten auf unsere Konjunkturumfragen anschauen, geben alle Befragten an, dass sie erwarten, dass ihre Ergebnisse im Sommer weiter sinken. Das sind dann Juli und August. Und der Trend ist nicht gut. Der Trend ist der, dass die Aktivitäten weiter zurückgehen.
Rutschen wir in die Rezession?
Derzeit haben wir keine Rezession in der Eurozone und auch nicht in Luxemburg. Für eine technische Rezession muss das BIP zwei Quartale hintereinander schrumpfen. In diesem Quartal haben wir -0,1, aber in dem davor waren es +0,6, also haben wir noch keine technische Rezession.
Und für eine „richtige“ Rezession?
Das wäre dann ein Schrumpfen des BIP auf ein Jahr gesehen. Es ist möglich, dass wir für das Jahr 2023 einen negativen Wert haben. Aber im Moment ist das nicht der Fall, auch nicht in der Prognose. In der letzten Prognose von Juni haben wir ein Wachstum von +1,5 Prozent errechnet. Mit den neuen Zahlen und dem Trend, den wir jetzt in Luxemburg und in der EU beobachten, werden wir am Jahresende sehr wahrscheinlich weniger als 1,5 Prozent erreichen. Aber ob das BIP unter 0 rutscht und wir eine Rezession haben – das können wir jetzt noch nicht sicher wissen. Wir können es jedoch auch nicht ausschließen.
Luxemburgs Volkswirtschaft ist klein. Da kann das schlechte Ergebnis eines großen Unternehmens schon einen Unterschied machen, oder nicht?
Ja, es ist manchmal nicht einfach. Wenn man große Bewegungen bei großen Unternehmen hat, kann das die Zahlen sehr verändern. Aber was auch speziell für Luxemburg ist, ist der Anteil der Finanzaktivitäten. In Europa hat der Finanzsektor einen Anteil zwischen fünf und zehn Prozent am BIP. In Luxemburg sind es 25 Prozent, es ist der wichtigste Sektor. Und für dessen Aktivitäten gab es im vergangenen Quartal eine große Volatilität. Deshalb ist es ein bisschen schwierig, die generellen Aktivitäten für das nächste Quartal zu antizipieren. Und manchmal, wenn ein paar Banken in einem Quartal sehr gute Ergebnisse erzielen, kann man auch einen überraschenden Anstieg beim BIP haben.
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