Es war eine Erkrankung, die Doreen Ahmed Ridha zur Frührentnerin machte und gleichzeitig zum Stricken brachte. „Ich habe Fibromyalgie und habe nach einer sinnvollen Aufgabe gesucht. Da kam die Anfrage einer jungen Frau gerade rechtzeitig.“ Die ehemalige Beamtin, die schon immer gerne gestrickt hatte, zögerte nicht lange und machte sich an die Arbeit. Nach dem ersten Paar „Epithesen“ – gestrickte Brustprothesen für Krebspatientinnen, denen eine Brust oder Gewebeteile davon entfernt wurden – folgten weitere Anfragen. Die Idee, einen Verein ins Leben zu rufen, war geboren. „Seit der Vereinsgründung von ‘Strickbrust e.V.’ am 15. Oktober 2019 haben wir insgesamt 177 Epithesen sowie 15 Teilprothesen versendet“, erklärt Pressesprecher Sandro Eibl dem Tageblatt. Doreen Ahmed Ridha ist Vorsitzende von „Strickbrust e.V.“ aus Schwerin, der 17-jährige Schüler Eibl kümmert sich um die Öffentlichkeitsarbeit. Derzeit stricken drei bis vier Frauen für die „Amazonen“, eine freiwillige Helferin häkelt.
Die „Amazonen“, so werden die Brustkrebspatientinnen voller Respekt im Verein begrüßt. Pressesprecher Eibl erklärt: „In der griechischen Mythologie entfernten sich die Amazonen die rechte Brust, um besser mit Pfeil und Bogen umzugehen und mehr Stärke beweisen zu können.“ Diese Stärke der Kriegerinnen aus der Antike möchten die Vereinsmitglieder an die Betroffenen übertragen, „damit sie dank der ‚Strickbrüste’ auch nach dem Eingriff in ein neues, normales Leben starten können“, so Eibl.
Eine Alternative zur Silikonprothese
„Eine Strickbrust ist eine Epithese, die die natürliche Form der weiblichen Brust nachahmen soll. Sie ist aus Baum- oder Acrylwolle hergestellt“, erklärt Eibl. Die Variante aus Acryl eignet sich besonders gut zum Sporttreiben, da sie sich beim Schwimmen nicht mit Wasser vollsaugt und dadurch leicht bleibt. Sind die Epithesen fertig gestrickt, werden sie mit Füllwatte gefüllt und an die Wünsche ihrer Trägerin angepasst – „sei es Körbchengröße oder Farbe“, schildert der Pressesprecher. Dadurch entstehen Strickbrüste in unzähligen Größen und Formen, so wie der individuelle Körperbau der Betroffenen es verlangt. Individuell anpassungsfähig ist auch die Füllung der Strickbrust, sagt Doreen Ahmed Ridha. Die Stricktaschen sind an der Rückseite offen gearbeitet, sodass bei Bedarf die Trägerin Füllwatte herausnehmen oder hinzufügen kann.
Frauen, die nach einer Mastektomie, einer vollständigen Entfernung der Brust, eine Größe kleiner als die eigentliche Brust tragen, bekommen sogenannte Teilepithesen gestrickt. Sie sind nicht so hoch und voluminös, erklärt Ahmed Ridha.
Glasmurmeln gegen Haltungsschäden
Mit der Strickbrust versucht man die natürliche Form der Brustform nachzuahmen, der Trägerin ein Wohlgefühl zu Hause und in der Öffentlichkeit zu geben, erklärt Sandro Eibl. „Natürlich sind Stoff und Füllwatte nicht so schwer wie eine ‚echte’ Brust. Und dieses Gefühl, sagen wir, sollte man nachempfinden, indem man Glasmurmeln hinzufügt.“ Setzt man sie in die Stricktasche zu der Füllwatte ein, lässt sich das Gewicht in der Epithese gleichmäßiger verteilen.
Dieser kleine Hilfsgriff erfolgt aufgrund der Erfahrungen der Helfer von „Strickbrust e.V.“ und der Amazonen mit Haltungsschäden, die sich nach einer Mastektomie einstellen können. Die Silikon-Epithese, sagt die Vereinsvorsitzende, sei eigentlich eine schöne Alternative für diejenigen Frauen, die sie vertragen. Sie werde an die Körperproportionen angepasst. Das eigentliche Problem sei aber das Eigengewicht der Silikonprothese: „Sie ist zu schwer. Das Gefühl, einen Rucksack anstelle der Brust zu tragen, kommt auf. Der Oberkörper beugt sich automatisch nach vorne, sodass Haltungsschäden unvermeidbar sind.“ Auch Allergien und Abschürfungen auf der Haut können das Tragen einer Silikonprothese verhindern.
In ihrer Notlage greifen manche Patientinnen zu Wollknäuel und Windeln als Füllmaterial oder lassen das BH-Körbchen ganz leer und landen dadurch wieder in den Teufleskreis der Haltungsschäden, berichtet Doreen Ahmed Ridha aus ihrer Arbeit mit den Betroffenen. „Genau dort aber knüpfen wir mit der Idee der gestrickten Brust an: Wir möchten jenen Frauen eine Alternative bieten, die sich gegen einen Wiederaufbau der Brust entscheiden oder die Silikonprothesen auf der Haut nicht vertragen“, erklärt Sandro Eibl.
Warum vorwiegend haushaltsnahe Mitteln zur Herstellung einer Strickbrust und dem fehlenden Gleichgewicht infrage kommen, hat mehrere Gründe: Zum einen finanziert sich der Verein ausschließlich durch Spenden. Die Corona-Krise belastete die Vereinskasse zudem besonders schwer. Zum anderen können viele Patientinnen neben den Therapieausgaben auch Zusatzkosten für Hilfsmittel schultern, erzählt Ahmed Ridha. „Sodass sie bei Bedarf mit wenigen Euro für Wolle, Füllwatte und ein paar Murmeln sich selbst helfen könnten.“
Der erste Kontakt
Was das Pendant der US-Vereinigung „Knitted Knockers“, dessen Mitglied der Verein in Schwerin auch ist, von anderen Mitgliedern weltweit unterscheidet, ist die Zahl der gespendeten „Strickbrüste“. Das US-Vorbild sehe nur eine Brust pro betroffene Patientin vor. „Wir spenden jeder Frau grundsätzlich ein Paar gestrickte Epithesen“, sagt Eibl. „Unabhängig davon, ob die betroffene Person nur eine Brust verloren hat. Das Gleiche gilt für Frauen, denen beide Brüste entfernt wurden – sie bekommen zwei Paare. Damit haben sie immer Ersatz zur Hand.“
Dank den sozialen Medien und Beiträgen auf spezialisierten Plattformen lernen immer mehr Betroffene „Strickbrust e.V.“ kennen und greifen auf dieses Angebot zurück. Manche Frauen sorgen sogar vor: „Inzwischen erreichen uns zukünftige Amazonen, die wissen, wann sie den OP-Termin haben und ihre gestrickten Brustprothesen vorbestellen, damit sie versorgt sind“, sagt Doreen Ahmed Ridha. „Es schreiben uns aber auch Frauen an, die vor mehreren Jahrzehnten operiert wurden. Die Bandbreite der Betroffenen ist sehr groß.“ Angesichts des offenbar stetigen Bedarfs nach Alternativen zu Silikonprothesen findet Ridha es sehr schade, dass es bis heute für Silikon in der Medizin keinen wirklichen Ersatz gibt.
Neben gestrickten Brustepithesen und gestrickten Kissen für den „Port“ (Portkatheter für Chemotherapie, Anm. d. Red.) hat der Verein ein offenes Ohr für die Betroffenen. „Wir wollen ihnen zeigen, dass sie nicht allein sind, dass jemand ihnen zuhört“, sagt Ahmed Ridha. Sie berichtet von Gesprächen mit Patienten, die teilweise mehrere Stunden dauern. „Die Frauen fühlen sich alleingelassen. Auch von dem Gesundheitssystem vor Ort.
In diesen Gesprächen erfährt sie auch, wie der Krebs das Leben der Patienten und ihrer Familien mit einem Schlag verändert. Eine Strickbrust leistet daher weitaus mehr als nur einen Ersatz eines fehlenden Körperteils. „Meine allererste Amazone, für die ich gestrickt habe, hat sich Himbeer-Brüste gewünscht. Da habe ich zum ersten Mal verstanden, welche Bedeutung Farben in dieser Situation haben können“, sagt Doreen Ahmed Ridha voller Hochachtung.
Kontakte und weiterführenden Informationen:
www.strickbrust.de („Strickbrust e.V.“ in Schwerin)
www.knittedknockers.org (US-Zentrale der „Knitted knockers“-Bewegung; die Webseite bietet auch Strickvideos auf Englisch an)
www.cancer.lu (Fondation Cancer in Luxemburg)
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