Was man so alles vom Theater lernt. Zum Beispiel: In Esch und Schifflingen lassen sich prima dystopische Stücke inszenieren. Seit Donnerstag und bis Sonntag tut Regisseurin Marion Rothhaar genau das. Im Rahmen des europäischen Kulturjahres Esch2022 und in Kooperation mit dem TNL lässt die Wahlschweizerin und Herzensluxemburgerin die Zuschauer eintauchen und rumreisen – und doch bleiben sie eigentlich bei sich, schließlich ist es ihre eigene kleine Hölle, die ihnen hier vorgespielt wird.
Beim Stück handelt es sich um eine Adaptation von E.M. Forsters Kurzgeschichte „Die Maschine steht still“. Und das ist eine durchaus bemerkenswerte Geschichte. 1908 geschrieben, 1909 erstmals veröffentlicht, sieht Forster lange vor dem ersten Computer das Internet und die daraus resultierende Einsamkeit und Technologiehörigkeit der Menschen voraus. Das Ganze ist so verblüffend präzise und erschreckend, dass man sich getrost fragen kann, ob Forster nicht ein Zeitreisender war. Und so zu dem Schluss kommen muss, dass wir, sollte Forster das bis zum Schluss richtig gedeutet haben, wohl verkümmern werden mit und im World Wide Web. Mit der Maschine.
Marion Rothhaars Inszenierung beginnt im futuristischen Bahnhof von Belval und führt die Zuschauer im abgedunkelten Bus auf die Metzeschmelz in Schifflingen. Die Theaterfassung stammt von Florian Hirsch, Hausdramaturg am Nationaltheater. Die beiden Luxemburger SchauspielerInnen Fabienne Hollwege und Konstantin Rommelfangen sind als Mutter und Sohn die einzigen Rollen und spielen das Ganze so furios, dass es sonst niemanden braucht. Die Zuschauer sind gebeten, Masken und weiße Schutzanzüge zu tragen. SchülerInnen des Escher „Jongelycée“ führen herum und beschwören dabei die Maschine: „Welch ein Fortschritt, der Maschine sei Dank.“ Max Thommes und Paul „Melting Pol“ Schumacher sorgen für die Soundkulisse und das Video-Mapping in den von Anouk Schiltz gestalteten Räumen und es dauert nicht lange, bis man sich fragt: Bin ich hier auf Netflix, oder was? Dass Theateraufführungen einen denken lassen, Teil eines Science-Fiction-Films zu sein – das muss einem erst einmal gelingen.
Allzu bequeme Isolation
In Forsters „The Machine Stops“ leben die Menschen, alle völlig isoliert voneinander, ihre sozialen Kontakte über die Maschine aus. Die Maschine versorgt sie mit Nahrung, Kleidung, Unterhaltung, Medizin. Schnell wird klar, wer hier die Kontrolle hat. Der Mensch ist es nicht. Er hat die Maschine zum Gott gemacht. Und wehe dem, der sie nicht verehrt!
Was uns zum Plot bringt. Die beiden Protagonisten könnten nicht weiter voneinander entfernt sein. Der Sohn, ein Träumer und Rebell, stellt die Macht der Maschine in Frage, er will selbst denken und fühlen, das Leben erfahren. Er fragt seine Mutter: „Sehnst du dich nicht manchmal nach der Natur? Und kennst du nicht die vier großen Sterne, die ein Viereck bilden, in dessen Mitte drei weitere Sterne dicht beieinander stehen, an denen wiederum drei weitere Sterne hängen?“ Die Mutter gehorcht der Maschine, vermisst nichts, spürt nichts, und antwortet ihrem Sohn: „Sicher nicht. Ich hasse Sterne.“ Das ist nicht besonders fürsorglich, aber „elterliche Pflichten enden mit der Geburt“, so steht es im Buch der Maschine. Das Publikum begleitet die Mutter räumlich und emotional bei ihrer schwierigen Annäherung, weshalb man auch im Luftschiff (in diesem Fall ein TICE-Bus) vom Bahnhof Belval in die stillgelegte Industrieanlage der Arbed in Schifflingen mitreisen darf. Bilder der „Außenbordkamera“ zeigen die mittlerweile unbewohnbare, graue Erdoberfläche.
„Befreit vom Makel der Persönlichkeit“
1908 schreibt Forster das – woran erinnert es uns? „Bald schon wird es eine Generation geben“, heißt es im Stück, „die alle Tatsachen und Eindrücke hinter sich gelassen hat, eine durch und durch farblose Generation, eine Generation, die wie Engel befreit vom Makel der Persönlichkeit die Geschichte, zum Beispiel die Französische Revolution, nicht mehr auf Grundlage dessen beurteilen wird, was sich in ihrem Verlauf ereignet hat, sondern auf Grundlage dessen, was sich ereignet hätte — im Zeitalter der Maschine.“
Marion Rothhaar porträtierte vor der Pandemie mit Kafkas „Cave“ in einem Weinkeller in Remich einen Prepper, also jemanden, der sich unter die Erde zurückgezogen hat, um sich auf die Katastrophe vorzubereiten. Mit Forsters „Die Maschine steht still“ lässt sie ein weiteres Mal, erneut in Zusammenarbeit mit Liss Scholtes, rund 100 Jahre alte Literatur wieder lebendig werden – mit der der deutschen Regisseurin eigenen Wucht, dem gewissen Punch eben. Dieses Mal findet alles in Esch und in Schifflingen statt. In 90 Minuten begleiten die Zuschauer die SchauspielerInnen Fabienne Hollwege und Konstantin Rommelfangen in ihren Rollen als Mutter Vashti und Sohn Kuno und tauchen so intensiv ein in eine fremde Welt, die unserer eigenen auf gruselige Weise viel, viel zu nahe ist. „Gesegnet sei die Maschine.“
LINK Eine deutschsprachige Hörspiel-Fassung von „Die Maschine steht still“ gibt es im Internet-Archive.
"Sich in Esch wie in einem Science-Fiction-Film fühlen?"
In Esch fühle ich mich immer wie in einem post-apokalyptischen SF-Film. ?