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TabuthemaSchätzungen zufolge leiden mehr als 6.000 Menschen in Luxemburg an einer Psychose

Tabuthema / Schätzungen zufolge leiden mehr als 6.000 Menschen in Luxemburg an einer Psychose
 Foto: Editpress/Didier Sylvestre

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Schätzungen zufolge erkranken ein bis zwei von 100 Menschen mindestens einmal im Laufe ihres Lebens an einer Psychose. In Luxemburg wären das mindestens 6.500 Personen. Doch das Wissen um die Krankheit ist in der Öffentlichkeit gering, da psychische Erkrankungen noch mit einem Tabu behaftet sind. Das will die AFPL („Association des familles ayant un proche atteint de psychose au Luxembourg“) ändern.

Ende Dezember kletterte in Esch-Alzette, nahe dem Kreisverkehr in Raemerich, eine Frau auf einen 80 Meter hohen Mast (s.T. vom 28.12.2022). Anfangs ging von einer Klimaaktivistin die Rede, ein Gerücht, das sich jedoch nicht bestätigen sollte. Nicht politische Motive hatten die Frau auf den Mast getrieben, sondern gesundheitliche Probleme: Wie die Schwester der Betroffenen dem Tageblatt erzählte, leidet die junge Frau an Schizophrenie. Bei der Gelegenheit kritisierte sie, dass es nicht genügend Therapieplätze gebe, wo solche Patienten stationär behandelt werden können. „Es ist nicht das erste Mal, dass sich meine Schwester in Gefahr begibt. Doch es ist sehr schwierig, sie dauerhaft in einem Krankenhaus unterzubringen. Schon mehrere Male wurde sie in die Notaufnahme gebracht. Dort gibt man ihr Medikamente und nach ein paar Tagen entlässt man sie. Doch ich kann sie nicht zwingen, ihre Medikamente auch weiter zu nehmen, wenn sie nicht möchte.“

Die junge Frau ist beileibe kein Einzelfall. Schätzungen zufolge leiden zwischen einem und zwei Prozent der Bevölkerung an einer Psychose, erklärt der Psychiater Dr. Paul Rauchs. Das wären bei der aktuellen Bevölkerungszahl zwischen 6.500 und 13.000 Menschen. Das geläufigste Krankheitsbild sei die Schizophrenie. Dabei kommt es zu einer Veränderung des Denkens und der Wahrnehmung. Man nimmt an, dass eine genetische Veranlagung bei der Schizophrenie eine Rolle spielt. Die Krankheit wird auch als Stoffwechselstörung des Gehirns verstanden. Die Ursachen sind jedoch nicht eindeutig geklärt.

„Das Wort Schizophrenie bedeutet zwar gespaltene Persönlichkeit, doch ein Fall wie ,Dr Jekyll and Mr Hyde‘ ist stark übertrieben. Der Betroffene bringt es nicht fertig, die verschiedenen Facetten seiner Persönlichkeit unter einen Hut zu bringen, sein Unterbewusstsein bietet ihm eine Erklärung für seinen Realitätsverlust“, beschreibt Dr. Rauchs die Krankheit. „Schizophrenie ist zwar gut behandelbar, aber schwer heilbar. Man kann den Zustand eines Patienten allerdings mittels Medikamente stabilisieren.“ Wahnvorstellungen könne man so relativ schnell in den Griff bekommen, doch der Patient müsse vielleicht sein ganzes Leben Medikamente nehmen.

Vorausgesetzt, sie nehmen sie. Dass Psychotiker ihre Medizin eigenwillig absetzen, ist kein Einzelfall, bestätigt Mady Juchem, Präsidentin der AFPL, dem Tageblatt. Sie weiß, wovon sie redet, sie ist selbst Mutter eines schizophrenen Jungen. Die meisten Betroffenen seien sich gar nicht bewusst, dass sie überhaupt krank sind, was die Behandlung schwierig mache. Sie sähen keinen Sinn darin, Medikamente zu nehmen.

Langes Warten auf einen Therapieplatz

Das Problem mit der Behandlung sind hierzulande einerseits die langen Wartezeiten auf einen Therapieplatz bei einem Psychiater und die begrenzte Anzahl der Betten in den Krankenhäusern. Die Rehaklinik des CHNP in Ettelbrück verfügt z.B. eigenen Angaben zufolge über 247 Betten (die aber nicht nur Psychotikern vorbehalten sind), in der offenen Rehabilitationsabteilung „Orangerie“ über 20 Betten. In einem offenen Brief an die Politik forderte die AFPL-Präsidentin 2018 zusätzliche Betten: „Wenn Sie eine neue Hüfte bekommen, können sie sofort nach der OP zur Reha (…). Warum ist das nicht der Fall bei Menschen mit einer Psychose?“, schrieb damals Mady Juchem.

Dass man auch bei einem Psychiater lange auf einen Termin warten muss, bestätigt Dr. Rauchs. „Es gibt zu viele Patienten und zu wenig Psychiater.“ Das Image seines Berufs sei eben nicht gerade „sexy“, sagt er. Allerdings, so betont er, bei akuten Anfällen finde sich immer ein Bett in einer Notaufnahme. Und ja, es sei in der Tat nicht einfach, jemanden längerfristig in ein Krankenhaus einzuliefern: Dazu bedürfe es neben der Unterschrift eines Arztes auch die einer Drittperson, z.B. eines Familienmitglieds, oder, falls keiner zugegen ist, des Bürgermeisters oder eines Polizisten; zusätzlich müsse auch der diensthabende Arzt im Krankenhaus sein Einverständnis geben. Die endgültige Entscheidung aber treffe stets ein Richter.

In einer Hinsicht scheint sich jedoch etwas geändert zu haben. Mady Juchem schrieb im November 2019 in einem Brief an den Direktor der Polizei, Philippe Schrantz, dass „junge Polizisten/innen, die eine Ambulanz begleiten (…) oft wenig Kenntnisse über Schizophrenie besitzen“.

Theoretische und praktische Schulung

Auf Nachfrage des Tageblatt teilt die Polizeiverwaltung mit, dass die Polizisten mittlerweile in ihrer Grundausbildung über die geläufigsten psychischen Erkrankungen informiert würden, und die Schizophrenie sei eine der Erkrankungen, auf die in der Ausbildung verstärkt eingegangen werde. Zusätzlich zur Theorie würden die Polizeianwärter auch praktisch mit Hilfe von Schauspielern auf den Kontakt mit Menschen vorbereitet, die sich in einem akuten psychotischen Zustand befinden. Bei besonderen Einsätzen, bei denen von einer Person eine Eigen- und/oder Fremdgefährdung ausgehe, können zusätzlich speziell geschulte Polizistinnen und Polizisten eingreifen.

Was die sogenannte Fremdgefährdung angeht, weist Dr. Rauchs auf die Tatsache hin, dass die meisten Straftaten, auch die gegen Menschen, von „normalen“ Personen begangen werden. Von den 1-2 Prozent Betroffenen bekomme auch nur ein kleiner Teil einen psychotischen Anfall.

Rund um die Krankheiten des Kopfes herrsche immer noch ein Tabu, sagt Mady Juchem. Informieren und Sensibilisieren sei wichtig, um dieses Tabu zu brechen. Deshalb gründeten sie und ihr Lebensgefährte 2017 die AFPL. Genauso wie es wichtig sei, über Aids in Schulen zu informieren, sollten Jugendliche auch über psychische Probleme aufgeklärt werden, denn zum größten Teil betreffe die Krankheit diese Altersgruppe. Die ersten Anzeichen der Krankheit treten meistens im Alter zwischen 15 und 35 Jahren auf. Was aber nicht ausschließt, dass auch ältere Menschen Psychosen entwickeln können.

Am 20. März organisiert die AFPL eine Konferenz im „Centre polyvalent“ in Oberanven zum Thema „Resilienz to go – Stressprevention im Alltag“. Infos unter www.afpl.lu.

Definition

Der Begriff „Psychose“ wird heute als eine Art Überbegriff für verschiedene psychische Erkrankungen benutzt. Dabei können sich das Denken, Fühlen, Empfinden zum eigenen Körper und der Kontakt zu anderen Menschen verändern. Erkrankte Menschen haben häufig Mühe, zwischen der Wirklichkeit und der eigenen Wahrnehmung zu unterscheiden. Das kann dazu führen, dass sie Stimmen hören, die andere nicht hören, dass sie sich verfolgt oder bedroht fühlen, dass sie Botschaften aus einer Welt erhalten, die anderen nicht zugänglich ist, oder, dass sie das Gefühl haben, sie würden sich körperlich verändern. Schizophrenie beschreibt eine psychotische Störung, bei der Verhaltensveränderungen und damit einhergehende Symptome über mindestens sechs Monate bestehen. (Quelle: Psychenet.de)

Robert Hottua
18. Februar 2023 - 14.25

Dass das Thema "Psychische Erkrankung" nicht nur in Luxemburg tabuisiert ist, hängt nicht nur, aber auch mit der Geschichte der Medizin der letzten hundertfünfzig Jahre zusammen. Psychisch kranke Menschen gehörten weltweit zum "unbrauchbaren Volkstum" von vielen "modernen", sozialdarwinistisch geprägten Nationen.
MfG
Robert Hottua