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Queer und mit dem Tod bedrohtRené flüchtete aus Russland: „Ich musste einfach überleben“

Queer und mit dem Tod bedroht / René flüchtete aus Russland: „Ich musste einfach überleben“
René: „Das Wort der Stunde lautet jetzt ‚Diversity’. Das ist schön und gut, aber die Menschen müssen sich auch darüber Gedanken machen, was es wirklich bedeutet.“ Fotos: Pit Reding, privat

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„Russland ist ein totalitaristischer Staat.“ Solche Sätze überraschen wohl kaum mehr. Bekannt ist ebenfalls, dass LGBT+-Personen und andere Bevölkerungsgruppen in Putins Regime diskriminiert und verfolgt werden. Doch wenn ein solcher Satz von einer Person stammt, die das System am eigenen Leib erlebt hat, erhält er sofort eine andere Dimension. René, Anti-Putin-, Anti-Kriegs- und LGBT+-Aktivist, lebt in Luxemburg. Er ist aus Russland geflüchtet.

René wurde in Perm geboren und hat in Moskau gelebt. Dort setzte er sich jahrelang für die Rechte von LGBT+-Personen an, am bekanntesten ist sein Engagement im Rahmen der Moscow Pride gemeinsam mit dem Publizisten und gayrussia.ru-Gründer Nikolai Alexandrowitsch Alexejew, zu dem René mittlerweile keinen Kontakt mehr hat. Eine Pride in Moskau gibt es schon lange nicht mehr. Sie ist verboten. 2011 wurde das „Gesetz zum Schutz von Minderjährigen gegen Propaganda von nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen“ in zwölf Regionen, darunter Moskau und Kaliningrad, ins Leben gerufen und 2012 vom Obersten Gerichtshof Russlands bestätigt. Zwar finden immer wieder Proteste kleinerer Gruppen aus der LGBT+-Gemeinschaft statt, doch sie enden oft in Festnahmen und Anfeindungen. Die Brutalität, mit der sowohl Polizisten als auch homophobe und transphobe Gruppierungen vorgehen, hat René am eigenen Leib erlebt. In Moskau wurde er mehrmals zusammengeschlagen und erhielt Todesdrohungen. Auch als er zu seiner Mutter flüchtete, fanden Hassgruppen seine Anschrift und drohten ihm mit dem Tod.

Wir waren damals zu dritt. Ich bin der Einzige, der übrig geblieben ist.

„Fast alle unsere Aktivisten haben Russland verlassen“, sagt René. „Dort weiterzuleben, war schlichtweg unmöglich.“ Dank eines luxemburgischen Visums, das Nikolai Alexejew ihm besorgte, schaffte er es 2015 nach Luxemburg, wo er auch heute noch lebt. Das Großherzogtum war keine Wahl, „ich befand mich in Lebensgefahr und musste einfach leben“, sagt René. „Wir waren damals zu dritt. Zwei Freunde von mir und ich stellten Antrag auf Asylrecht. Einer von ihnen, der früher in Russland als Journalist arbeitete, wurde nicht angenommen und nach Russland zurückgeschickt. Die zuständigen Behörden glaubten ihm nicht. Dies ging dem Dritten von uns, einem sehr engen Freund von ihm, sehr nahe. Er beging Suizid. Ich bin der Einzige, der übrig geblieben ist.“

Sein Schutzgesuch im Jahr 2015 erregte Aufmerksamkeit in Luxemburg. Es handelte sich um einen Präzedenzfall hierzulande. „Wenn es um Geflüchtete geht, stellten sich viele Menschen eine Familie mit Kindern vor, vorwiegend aus dem afrikanischen oder vorderasiatischen Raum“, sagt René. Das war vor dem Krieg in der Ukraine. „Dass eine Person wie ich, weiß und alleine, um Asyl bittet, war damals eher selten.“

„Der gleiche Hass in den Augen“

In Luxemburg angekommen, verbrachte er einige Monate in einem Heim für Geflüchtete – eine Zeit, die René als „sehr hart“ beschreibt. Er war die einzige queere Person im Raum, wurde zum Teil boykottiert oder wie Luft behandelt. Da Sicherheitspersonal in der Einrichtung im Einsatz war, kam es nie zu Aggressionen oder gefährlichen Situationen, doch René hatte ständig Angst. „Das war das Schlimmste für mich: Ich versuchte eigentlich nur zu überleben und stieß auf die gleiche Queerphobie, vor der ich ursprünglich geflüchtet war. Auch heute noch sehe ich die hasserfüllten Augen mancher Menschen. Es waren die gleichen Augen, der gleiche Hass wie in Russland.“

„In Luxemburg fehlt mir bei vielen Themen der aktive Einsatz“, findet René
„In Luxemburg fehlt mir bei vielen Themen der aktive Einsatz“, findet René Foto: privat

Nach drei bis vier Monaten konnte René in eine eigene Wohnung in Schifflingen einziehen, in der er rund ein Jahr lang blieb. Sie war sehr klein, doch er fühlte sich in Sicherheit. Die Barrieren, mit denen er konfrontiert war, waren vor allem sprachlicher, aber auch sozialer Natur. Als René in Luxemburg ankam, sprach er nur Russisch und ein wenig Englisch. Heute spricht er Französisch und lernt Luxemburgisch. „Ich bin jemand, der schon gerne Zeit alleine verbringt“, erzählt René. „Doch da habe ich erfahren, was es wirklich bedeutet, niemanden zu haben. Ich war alleine, in einem fremden Land, das komplett andere Sprachen spricht, hatte kein Geld und keine Kontakte.“ Hilfe bekam er unter anderem vom Centre Cigale, wo er mittlerweile arbeitet. „Heute habe ich Freunde in Luxemburg. Doch es dauerte Jahre, bis ich das Vertrauen der Menschen gewinnen konnte. Alles in allem würde ich sagen: Es ist immer noch ein langer Weg der Integration. Aber es ist auf jeden Fall besser als vorher.“

„Habe den Krieg kommen sehen“

„Russian-bashing“ oder Hass aufgrund seines Geburtslandes hat René in Luxemburg bislang noch nicht erlebt. Auch seit Beginn des Krieges nicht. Ein Krieg, der sich ihm zufolge bereits vor Jahren angedeutet hat. „Viele Bekannte von mir waren schockiert und meinten, das könne doch nicht sein. Doch ich habe den Angriff auf die Ukraine kommen sehen. Ich sah, was die Regierung tat und wie sich die Menschen verhielten. Der Hass gegenüber LGBT+-Personen, dann der Hass gegenüber den USA und dann der Hass gegenüber den Ukrainern. Es ist absolut nicht überraschend, dass es so weit kam.“ 2014 hatten rund 50.000 Russen gegen die Annexion der Krim demonstriert. Zurück nach Russland käme für René nicht infrage. Nicht jetzt und auch nicht in Zukunft. „Ich vermisse meine Mutter, die noch dort lebt“, sagt er. „Sonst nichts.“ Seine Schwester wohnt in Amsterdam, die Mutter würde er gerne mit nach Luxemburg holen, doch das sei sehr kompliziert.

Hier in Luxemburg begrüßt René die Fortschritte, die es in Sachen Anerkennung und Rechte der LGBT+-Gemeinschaft gibt. Doch es gibt noch viel zu tun, betont er. „Klar ist das Leben hier als Trans-Mann ein ganz anderes als in Russland. Keine Frage. Doch es gibt immer noch Unterschiede zwischen Rechten auf dem Papier und dem gelebten Alltag.“ Es sei für ihn schwierig gewesen, eine Arbeit zu finden. Auf seinem CV merkte er immer an, dass er transgender ist. „Die Menschen hier werden nicht aggressiv und schlagen dich nicht zusammen. Aber manche kennen Wege, um zu erreichen, dass du dich trotzdem wie ein Mensch zweiter Klasse fühlst.“

Vor allem im medizinischen Bereich gäbe es noch viel Unwissen. Viele Gynäkologen seien nicht ausreichend über das Thema Trans*-Menschen aufgeklärt. „Wenn ich anrufe, heißt es manchmal: ‚Wollen Sie einen Termin für Ihre Frau ausmachen?‘“, sagt René und lacht. „Nein, es geht um mich.“ Er befindet sich zurzeit in der Transition und hat bereits geschlechtsangleichende Operationen durchführen lassen. Weitere stehen an.

Der Kampf geht weiter. René macht sich nach wie vor für Gleichberechtigung stark und dafür, die Menschen in Luxemburg aufzurütteln („wenn es um soziales Engagement geht, sehe ich hier eine gewisse Passivität – mir fehlt der aktive Einsatz“). Seinen Vornamen hat er bereits geändert, als Nächstes steht die gleiche Prozedur mit dem Nachnamen an. Das gestaltet sich jedoch deutlich komplizierter, denn bei russischen Nachnamen gibt es häufig männliche und weibliche Endungen. René hat aktuell einen männlichen Vornamen und einen weiblichen Nachnamen. Dies zu ändern, ist möglich, indem er Luxemburger wird. Deswegen lernt René Luxemburgisch.

René ist im Centre Cigale angestellt
René ist im Centre Cigale angestellt Foto: privat

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