Lang anhaltender Stress und wenig Eigenverantwortung machen Arbeitnehmer dick, heißt es jetzt in einer umfassenden Studie aus Schweden.
Von André Anwar, Stockholm
Noch vor 80 Jahren hätte das vermutlich niemand für möglich gehalten. Ausgerechnet Übergewicht ist heutzutage eines der größten Gesundheitsprobleme der Menschheit. Knapp ein Drittel der Weltbevölkerung ist zu dick. Das besagt eine 2017 im New England Journal of Medicine veröffentlichten Studie. In den leistungsorientierten USA ist es demnach am schlimmsten. Und der Anteil der Dicken, die Gesundheitssysteme belasten, wächst.
Erklärungsansätze gibt es viele. Eine Teilursache könnten schlechte Arbeitsbedingungen sein, legt nun zumindest eine sehr umfangreiche Studie der Universität Göteborg in Schweden nahe. Innerhalb von 20 Jahren wurden zu Forschungszwecken 3.800 Schweden dreimal gewogen. Einige Studienteilnehmer zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr, andere zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr. Gleichzeitig wurden Informationen zu ihrem Arbeitsalltag erfragt.
Zehn Prozent mehr Gewicht bei den niedrigen Positionen
Die Ergebnisse der kürzlich im Fachmagazin International Archives of Occupational and Environmental Health erschienenen Studie waren überdeutlich. Männer und Frauen, die in niedrigen Positionen mit geringen eigenen Gestaltungsmöglichkeiten und starker Fremdkontrolle arbeiteten, nahmen viel häufiger mindestens zehn Prozent mehr zu als Arbeitnehmer mit eigenverantwortlicheren Jobs. Letztere bekleiden häufig höhere Positionen, wie etwa bei Chef- oder Expertenjobs, die eine höhere Qualifikation verlangen.
Als zweite wichtige Ursache für deutliche Gewichtszunahmen ermittelten die Forscher nicht kurzfristigen vorübergehenden, sondern lang anhaltenden Stress bei der Arbeit. Hier spielte die Arbeitsplatzhierarchie keine Rolle. Erstaunlicherweise aber das Geschlecht. Männer wurden durch hohe Anforderungen nicht viel dicker als ihre Geschlechtsgenossen in gemächlicheren Jobs. Frauen hingegen, die jahrelang anhaltenden Stress bei der Arbeit hatten, waren viel anfälliger für Übergewicht. Sie nahmen durchschnittlich 20 Prozent mehr zu als Frauen ohne langfristigen Arbeitsstress.
Frauen nehmen eher zu
Die schwedischen Forscher schlossen als Ursache eine Reihe von Faktoren aus. So liegt der große Unterschied zwischen Männern und Frauen nicht darin, dass gestresste Frauen sich eher mit Schokolade und fettigem Essen trösten als Männer. Auch schlossen die Wissenschaftler unterschiedliche Bewegungsgewohnheiten wie Sport als mögliche Erklärung aus. Auch der akademische Bildungsgrad, soziale Unterstützung bei der Arbeit, Rauch- und Ernährungsgewohnheiten und der Zivilstand hätten nicht den Unterschied zwischen den Geschlechtern erklären können, so Studienleiterin Sofia Klingberg gegenüber dieser Zeitung.
„Warum Frauen durch Stress eher dick werden und Männer nicht, bleibt unklar. Aber ein Faktor, der in früheren Studien genannt wurde, ist, dass Frauen neben der Arbeit eine größere Verantwortung in ihrem Privathaushalt tragen als ihre Männer. Die Doppelbelastung könnte eine Ursache sein, aber das ist nur eine Vermutung. Wir brauchen weitere Studien dazu“, erläutert Klingberg.
Evolution: Stress und Übergewicht
Bereits frühere Studien haben ergeben, dass ständiger Stress Menschen in den heutigen westlichen Gesellschaften eher dicker als dünner machen kann. Heute bleibt Stress vor allem im Kopf. Der menschliche Körper ist aber evolutionär seit Jahrtausenden auf konkreteren Stress eingestellt, etwa bei der Flucht vor einem Raubtier, oder auf Stress in Form einer längeren Hungerperiode. Er speichert möglichst viel Nahrung, um überleben zu können, auch heute noch.
Evolutionäre Veränderungen geschehen nur sehr langsam. Der weltweit immer größere Überfluss an erreichbarer Nahrung, der mit dieser evolutionären Überlebenssicherung kollidiert, besteht erst seit einigen Jahrzehnten, die Menschheit allerdings seit 2,8 Millionen Jahren, wie Knochenfunde von 2015 nahelegen. Den Großteil ihrer Existenz hungerten die meisten Menschen vermutlich eher, als dass sie zu dick waren.
Hinzu kommen eine ungesunde Ernährung und ein Mangel an Bewegung. Beidem könnte mit etwas gutem Willen und ein bisschen Disziplin entgegengewirkt und abgeholfen werden.