Fast 150 Tote, viele durch Kopfschuss. Nicaragua wird seit Wochen von Protesten erschüttert. Nun sorgt ein Foto für Aufregung. Darauf zu sehen: Ein weißer Pick-up, wie ihn die Schlägerbanden von Präsident Ortega nutzen – und den Luxemburg der Regierung in Managua einst schenkte.
Der Muttertag in Nicaragua war rotgefärbt. Nicht wegen verschenkter Rosen, sondern wegen erschossener Söhne. 18 Menschen starben an dem Tag in dem mittelamerikanischen Land, darunter ein 15-jähriger Junge. Der 30. Mai ist damit einer der blutigsten Tage bei den seit Mitte April andauernden Protesten gegen die mittlerweile elf Jahre währende Präsidentschaft Daniel Ortegas.
Mittlerweile ist die Opferzahl auf fast 150 gestiegen. Viele starben durch Kopfschüsse, mehr als tausend Menschen wurden verletzt. Es sind die heftigsten und opferreichsten Proteste gegen den ehemaligen Guerillakämpfer Ortega, seit dieser an der Macht ist. Zu Beginn richtete sich die Wut aus der Bevölkerung gegen geplante Rentenkürzungen der Regierung. In der Stadt León schlug die Juventud Sandinista, die Jugendorganisation von Ortegas Partei, die Proteste gleich am ersten Tag brutal nieder. Unabhängige Fernsehsender wurden geschlossen. Ab dem 18. April gab es damit in Nicaragua nur noch Staatsfernsehen.
Erst gegen Rentenreform, dann gegen Präsidenten
Die Situation sollte schnell schlimmer werden. Bereits am zweiten Tag der Proteste gab es die ersten Toten, zwei Studenten und einen Polizisten. Wenig später, am 20. April, kam es zum ersten Massaker mit insgesamt 21 Toten. Viele von ihnen waren Studenten. Damit hatte die Staatsmacht die Jugend des Landes endgültig zum Feind erklärt. Ortega hatte seine Pläne für Rentenkürzungen da bereits wieder zurückgezogen. Zu spät allerdings, die Wut der Massen richtete sich nun gegen den Präsidenten und seine Entourage. Seit diesem Tag fordern die Demonstranten Ortegas Rücktritt.
Wie Demonstranten in Nicaragua gegenüber dem Tageblatt per Telefon erzählen, greift die Polizei bei ihren Repressalien auf bewaffnete Milizen und Schlägertrupps zurück. Auf Mopeds und Pick-ups fahren diese nachts durch die Viertel der größeren Städte, schießen auf Häuser oder gleich auf Menschen. Die Straßen allerdings sind nachts in Nicaragua wie leergefegt. Kaum einer traut sich nach 18.00 Uhr noch aus dem Haus – aus Angst, der grassierenden Gewalt zum Opfer zu fallen.
Machtvakuum als Einladung an Verbrecherbanden
Nicaraguas Städte sind mittlerweile geprägt von Barrikaden. Verbrecherbanden machen sich das Machtvakuum zunutze, plündern Geschäfte, Regierungsgebäude gingen schon in Flammen auf. Auch der Druck auf Ausländer und Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen nimmt ständig zu.
Das ist der Grund, wieso unser Gesprächspartner seinen Namen hier nicht lesen will. Dass die Proteste bald enden könnten, glaubt er nicht. Ganz im Gegenteil. Masaya sei auf dem Weg, die erste «befreite Stadt» zu werden. «Seit einer Woche haben sich die Viertel organisiert und es gibt inzwischen in jedem Viertel mehrere Straßensperren.» Seitdem gebe es auch keine Plünderungen mehr. Die Polizei sitze seit mehreren Tagen in ihrem Polizeigebäude fest, weigere sich aber nach wie vor, sich zu ergeben. In der Hauptstadt Managua spitze sich die Situation ebenfalls weiter zu. Rund um die Universität patrouillierten nachts weiße Pick-ups ohne Nummernschilder, vermummte, mit Maschinengewehren bewaffnete Männer auf der Ladefläche.
In den sozialen Medien des Landes zirkuliert seit wenigen Tagen das Foto eines weißen Pick-ups ohne Nummernschilder mit dem Aufdruck «Donación Cooperación Luxemburgo». Luxemburg ist ein Kooperationspartner Nicaraguas. Per Bildbearbeitungsprogramm wird mit dem Foto ein Aufruf an alle Luxemburger mitgeliefert (Augen auf, «Pueblo del Luxemburgo», heißt es da) – diese Wägen würden nun von den Schlägerbanden genutzt, um die Menschen Nicaraguas zu terrorisieren.
Ob das Foto echt oder eine Fälschung ist, lässt sich bislang nicht feststellen, die fehlenden Nummernschilder bleiben jedoch merkwürdig. Das sieht man auf Nachfrage hin auch im Luxemburger Kooperationsministerium so. Allerdings wird dort beschwichtigt. Man gehe davon aus, dass dies «typische Fake News» seien. Darüber hinaus sei der Wagen eine Schenkung gewesen, demnach nicht mehr in Luxemburger Besitz.
Luxemburg hat Gelder an Regierung eingefroren
Die Gelder an die Regierung Nicaraguas seien aber kurz nach dem Ausbruch der Proteste eingefroren worden. Nur die konkrete Arbeit von Nichtregierungsorganisationen vor Ort werde weitergeführt, vier Luxemburger seien weiterhin vor Ort. Vor wenigen Tagen habe die Luxemburger Botschaft in Nicaragua dem dortigen Außenministerium in einer mündlichen Notiz mitgeteilt, darauf zu achten, dass Material, das aus Luxemburg finanziert wurde, ausschließlich für die angedachten Zwecke benutzt werden dürfe.
Das Amateurvideo zeigt erst reguläre Polizeikräfte, dahinter warten Milizen in Pick-ups
Es ist dabei ein offenes Geheimnis in Nicaragua, dass solche Pick-ups Ortegas Milizen zur Verfügung gestellt würden. Luxemburg unterstützt das Land seit den 1990er Jahren, im vergangenen Jahr flossen knapp zehn Millionen Euro nach Managua. Eigentlich hätte dieses Jahr ein neues mehrjähriges Kooperationsabkommen unterzeichnet werden sollen. Diese Gespräche wurden von Luxemburger Seite vorerst auf Eis gelegt.
Generalstreik ab Donnerstag
Die Proteste in Nicaragua gehen unterdessen weiter. Ab Donnerstag um Mitternacht soll ein 24-stündiger Streik das Land lahmlegen. Beobachter rechnen mit einem erneuten Tag voller Gewalt. Präsident Ortega weigert sich weiter, wieder in den Dialog zu treten. Auf ein Gesprächsangebot der Bischofskonferenz reagierte er mit der Bitte um „Bedenkzeit für eine schriftliche Antwort“. Eine knappe Woche ist seitdem vergangen. Die Bischöfe haben unter anderem vorgezogene Neuwahlen sowie Wahlrechts- und Verfassungsreformen vorgeschlagen. Beides sind wichtige Forderungen der Opposition. An einem ersten Dialogversuch hatte auch die Bürgerallianz teilgenommen, die jetzt zu dem Streik aufgerufen hat.
Nicaragua liegt in Mittelamerika und grenzt im Norden an Honduras sowie im Süden an Costa Rica. In dem 130.000 Quadratkilometer großen Land, das im Westen vom Pazifik und im Osten vom Atlantik eingeschlossen wird, wohnen etwas mehr als sechs Millionen Menschen.
Wann und somit welche Regierung?
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