Nicht die Venus, sondern der Merkur ist der nächste Nachbar der Erde. Eine Erkenntnis, die in diesem Jahr selbst Astronomie-Fans verblüfft hat.
«Mein Vater erklärt mir jeden Sonntag unsere neun Planeten.» Diesen Satz haben tausende Schüler auswendig gelernt, um sich die Reihenfolge der Planeten in unserem Sonnensystem zu merken: Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn, Neptun, Pluto. Seit Pluto 2006 der Status als Planet aberkannt wurde, lernen die Schüler einen anderen, kürzeren Merksatz: «Mein Vater erklärt mir jeden Sonntag unseren Nachthimmel».
Auch auf Abbildungen sind die Planeten wie auf einer Perlenkette in dieser Reihenfolge abgebildet. Natürlich stimmen die Abstände nicht und die Größenverhältnisse werden nicht beachtet. Tatsächlich ist die Sonne so groß und die Distanzen zwischen den Planeten so weit, dass unser Heimatplanet, die Erde, auf einer solchen Darstellung verschwinden würde.
Doch es gibt ein weiteres Problem: Die Reihenfolge der Planeten, so wie sie auf diesen Darstellungen und im bekannten Merksatz dargestellt wird, ist trügerisch. Tatsächlich sind die Planeten nicht wie an einer Perlenschnur aufgereiht und bewegen sich nicht in einer Reihe wie ein riesiger Zeiger um die Sonne. Die Planeten kreisen vielmehr auf den ihnen eigenen von der Gravitation der Sonne diktierten, einmal mehr, einmal weniger exzentrischen Bahnen um das Zentralgestirn – ein jeder mit seiner eigenen Geschwindigkeit.
Wer ist uns wirklich nahe?
Im März hatten Forscher aus den USA einen Kommentar im Fachmagazin Physics Today veröffentlicht, in dem sie ihre neue Methode vorstellten, um die durchschnittliche Distanz zwischen Planeten zu berechnen. Sie behaupten: Nicht die Venus, sondern der Merkur ist der Erde am nächsten.
Das kommt ziemlich oft vor: In diesem Standbild aus unserem Video (siehe unten) ist der Merkur uns deutlich näher als die eigentliche Nachbarin Venus.
Um die durchschnittliche Distanz zwischen zwei Planeten zu berechnen, würden viele Menschen einfach den durchschnittlichen Radius des Orbits des inneren Planeten von dem des äußeren Planeten abziehen. Diese Methode ist genauso falsch, wie sie simpel ist, sagen die Forscher.
Nach dieser Methode wäre die Venus nur 0,28 Astronomische Einheiten (AU) von der Erde entfernt. Das stimmt allerdings nur, wenn sich beide Planeten am nächsten stehen. Es kommt aber auch vor, dass die Venus auf der gegenüberliegenden Seite der Sonne steht. Dann ist sie 1,72 AU entfernt. Rund die Hälfte der Zeit ist Merkur der Planet, der der Erde am nächsten liegt. Die andere Hälfte der Zeit teilen sich Venus und Mars. Tatsächlich ist Merkur nicht nur der Erde, sondern allen anderen Planeten des Sonnensystems durchschnittlich am nächsten.
Bei ihren Berechnungen sind die Wissenschaftler auf eine neue Regel gestoßen. «Für zwei Himmelskörper mit annähernd runden, koplanaren und konzentrischen Laufbahnen gilt: Die durchschnittliche Entfernung beider Himmelskörper ist am kleinsten, wenn der Orbit des inneren Planeten am kleinsten ist.» Die Wissenschaftler haben diese neue Regel «Whirly-Dirly Corollary» getauft, nach einer Episode der beliebten Zeichentrickserie Rick & Morty. In dieser Folge kommt eine spektakuläre Achterbahn mit dem Namen Whirly-Dirly vor, an die sich die Wissenschaftler bei der Betrachtung der Planetenlaufbahnen erinnert fühlten.
Nah ist nicht gleich nah
Diese simple Erkenntnis hat viele überrascht. Sie zeigt, wie sehr unser Wissen von simplen Darstellungen und Modellen geprägt wird, was manchmal zu falschen Vorstellungen führen kann. Der YouTube-Kanal «CGP Grey» hat diesem Umstand eine ganze Folge gewidmet. «Ich habe jahrelang Physik unterrichtet und dabei bestimmt Dutzende Male gesagt, dass die Venus der Erde am nächsten ist, ohne darüber nachzudenken», erklärt der Moderator. Tatsächlich sei die Venus der Planet, der am nächsten an uns herankommt, aber der Merkur sei der Planet, der die kürzeste durchschnittliche Distanz zur Erde hat.
Bereits 2006 wurde unser Schulbuchwissen auf eine harte Probe gestellt, als die International Astronomical Union (IAU) Pluto seinen Status als Planet aberkannte. Der Organisation zufolge ist ein Planet ein Objekt, das um die Sonne kreist, genug Masse hat, um ein hydrostatisches Gleichgewicht zu erreichen (sprich: rund ist), und «die Nachbarschaft seines Orbits gesäubert» hat. Letzteres bedeutet, dass sich außer den Monden kein anderes Objekt mehr in der Nähe des Himmelskörpers aufhalten darf. Pluto genügt dieser Definition nicht und gilt, was die IAU angeht, nur noch als Zwergplanet.
Geophysiker sind allerdings der Meinung, dass ein Planet über seine intrinsischen physischen Eigenschaften und nicht über irgendwelche Eigenschaften seines Orbits definiert werden sollte. Forscher um Kirby Runyon veröffentlichten 2017 einen Artikel im Fachblatt Lunar and Planetary Science, in dem sie vorschlagen, dass ein Planet ein Himmelskörper ist, der kleiner ist als eine Sonne, keine Kernfusion vollzieht und genug Gravitation hat, um eine annähernd runde Form zu haben. Für Schüler schlagen sie folgende Definition vor: «Runde Objekte im Weltall, die kleiner sind als eine Sonne.» Dieser Definition zufolge wäre aber auch der Mond ein Planet – ein «Mondplanet».
Pluto und Co.
Runyon und sein Team sind der Auffassung, dass Pluto und andere Objekte in den Augen der Öffentlichkeit an Bedeutung verlieren, wenn sie herabgestuft werden. Dadurch verliere auch die Erforschung dieser Objekte an Unterstützung.
Pluto ist zwar das größte bekannte transneptunische Objekt, das die Sonne umkreist, er ist jedoch ein gutes Stück kleiner als der irdische Mond und einige Monde des Jupiter und des Saturn und nur ein paar Kilometer größer als Eris. Seit 2006 gilt Pluto zusammen mit Eris, Makemake und Haumea als Zwergplanet. Einige Hunderte andere Objekte könnten in die gleiche Kategorie fallen. Sie warten darauf, von der International Astronomical Union eingestuft zu werden.
Unter anderem NASA-Chef Jim Bridenstine ist ein Anhänger des Pluto. Während einer Pressekonferenz im August sagte er: «Damit ihr es wisst: Wenn es nach mir geht, ist Pluto ein Planet, und ihr könnt schreiben, dass der NASA-Chef Pluto wieder zum Planeten deklariert hat.»
Interessant ist auch, dass die Bahn des Merkurs die instabilste aller Planetenbahnen ist. Er wird der erste (nächste?) Planet sein, der aus dem Sonnensystem herausgeschleudert wird, frühestens in 40 Millionen Jahren. Das ist erdgeschichtlich gesehen nicht mehr lange, und vielleicht erscheint ja bald jemand auf der Bildfläche, der uns vorsagt, wir sollten deswegen sofort in Panik geraten.