Headlines

Heimunterricht: „Das größte Problem waren unsere Ängste“

Heimunterricht: „Das größte Problem waren unsere Ängste“

Jetzt weiterlesen! !

Für 0.99 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

In der Schule mit seinen Regularien und dem auf Konkurrenz ausgerichteten System finden sich nicht alle Kinder zurecht. Diese Beobachtung machen Eltern, die ihre Kinder zu Hause unterrichten. Den «Lehrplan» sowie die «Lehrstunden» geben die Kinder mit ihren Interessen und Ideen vor. Christine* (43) und ihr Mann leben diesen Alltag mit ihrem zwölfjährigen Sohn René* seit vier Jahren.

Zum Ende seiner Schulzeit leidet René unter zahlreichen körperlichen und seelischen Symptomen. «Ich wollte morgens einfach nicht mehr aufstehen», sagt er selbst über diese Zeit. «Es gab eine große Diskrepanz zwischen dem, was in der Schule an Stoff angeboten wurde, und dem, was er selbst brauchte», sagt seine Mutter. Eine «Ärzte-, Test- und Untersuchungstournee» bestätigt René ein hohes intellektuelles Potenzial, was nicht gleich Hochbegabung ist, begleitet von Lernschwierigkeiten. Da hatte René sich aber schon aus der Schule verabschiedet. Das war im Zyklus 3.1.

Mutter Christine kennt Schulkarrieren wie diese aus der beruflichen Praxis. Die auf Kleinkinder spezialisierte Psychologin mit einem Doktor in Psychopathologie behandelt viele Grundschulkinder, die mit dem System Schule nicht zurechtkommen. «Stark frustriert», sagt sie über ihre Patienten, «das ist ein Gefühl wie bei der Post, wenn man stundenlang warten muss.» Und nichts passiert. Kinder, denen es so ergeht, haben die Wahl zwischen «schwierigem Verhalten» wie ihr Sohn – oft begleitet von körperlichen Symptomen. Oder aber es erfolgt der Rückzug in Computerspiele. «Sie legen ihr Hirn schlafen», sagt Christine. Sie sind nicht schwierig, weil sie Lust dazu haben oder die Eltern sie schlecht erzogen haben. «Es bleibt für die Kinder irgendwann die einzige Lösung, um zu kommunizieren», sagt sie.

Die Familie denkt um

René bereitet sich zurzeit auf das «Brevet français» des «Collège» im französischen Schulsystem vor. «Das ist zwei Jahre weiter als im luxemburgischen Schulsystem», sagt Christine. Sie ist Französin, Renés Vater Luxemburger, zu Hause wird Englisch und Französisch gesprochen. Dementsprechend ist auch die Lektüre des Zwölfjährigen. Er liest gerade «Artemis Fowl» von Eoin Colfer in französischer Sprache und «Are We Smart Enough to Know How Smart Animals Are?» von Frans de Waal auf Englisch. Praktische Sachen kommen hinzu. Die Terrasse der Familie steht voll mit Kübeln, in denen Tomaten heranreifen. «Das war das Projekt letztes Jahr», erklärt seine Mutter, «gärtnern und kompostieren lernen mit allem, was dazugehört.»

Die Entscheidung, den Sohn von der Schule zu nehmen, ist von Unsicherheiten begleitet. Das war 2014. Beim Heimunterricht würden Anhaltspunkte, um den Wissensstand des eigenen Kindes über den Vergleich mit Mitschülern bemessen zu können, fehlen. Zudem gibt es auch keine Anhaltspunkte, ob es zu viel, zu wenig oder das Richtige lernt genauso wie der durch die Schulzeiten strukturierte Tagesablauf. «Das größte Problem waren damals unsere eigenen Ängste», berichtet Christine. Das hat sich zwischenzeitlich gelegt. Das Ehepaar macht die Erfahrung, dass die Übertragung fester Lernzeiten nach dem Vorbild der Schule nichts bringt. Im Gegenteil: Je weniger Druck da ist, desto mehr lernt René freiwillig. Die Familie denkt um. Christine und ihr Mann sehen ihre Aufgabe seitdem darin, dem Sohn den geeigneten Rahmen für seine Neugier zu bieten. Das bedeutet, Quellen für das notwendige Fachwissen aufzuzeigen, methodische Ratschläge zu geben, ein Coach zu sein oder welche zu organisieren, wenn das eigene Wissen nicht reicht.

Prüfungssituationen erfahren

«Kinder lernen sowieso», sagt Christine, «und sie sind unglaublich kreativ, lassen wir sie doch machen.» René hat starkes Interesse an allem, was mit Informatik zusammenhängt, seine Stärken liegen generell eher im naturwissenschaftlichen Bereich. «Bei dem, was er in puncto IT macht, kann ich gar nicht mitreden», merkt seine Mutter an. In einem erwachsenen Freund der Familie, selbst Informatiker, hat der Sohn einen Ansprechpartner gefunden. Für die Eltern bedeutet der neue Alltag auch, dass sie sich anders organisieren müssen. Beide sind Freiberufler, das macht es etwas einfacher.

Die Ängste Außenstehender, der Junge würde nie lernen, Prüfungen abzulegen, kennen die Eltern. René lernt das über den Sport. Er reitet und spielt Eishockey. Im Eishockey hat er gerade die Prüfung zum Schiedsrichter bestanden und im Reitsport bereitet er sich nach erfolgreichem Abschluss des Diploms der französischen Reitervereinigung «Galop 5» auf die zwei Basisprüfungen in Ethologie vor. «Die Vorbereitungen darauf sind kein Problem, er weiß, um was es geht und warum er das macht», sagt Christine. Auch einen Grund, Freunde zu vermissen oder sich tagsüber allein zu fühlen, wenn alle in der Schule sind, kennt René nicht. Kontakte zu ehemaligen Schulkameraden haben gehalten und er hat oft Besuch von anderen Kindern. Sein Netz an «Coaches» ist gut ausgebaut.

«Das Arbeitsleben heute ist so anders» 

Bei Anne* und ihrem Mann liegen die Dinge ein wenig anders. Ihre Tochter Lily* wurde nie eingeschult. Nach einer kurzen Probierphase in der «Spillschoul» war das Thema erledigt. «Sie war einfach zu Hause glücklicher», sagt Mutter Anne. Allerdings will Lily, heute zehn Jahre alt, jetzt zur Schule gehen. «Sie ist in einer Phase, wo sie sich zunehmend von den Eltern löst und sie möchte täglich mit anderen Kindern in der Gruppe zusammen sein», erklärt Anne. Im Herbst steigt sie im 5. Zyklus ein. Beide Eltern arbeiten halbtags in der Finanz- und Informatikbranche, seit ihre Tochter auf der Welt ist. Angst vor einem «Karriereknick» gibt es in der Familie nicht. «Wir sind spät Eltern geworden», erzählt Anne, «unsere beruflichen Ambitionen waren damals schon in guten Bahnen.»

Die Umstellung ist der Familie leicht gefallen. «Ich finde das Leben viel schöner so und habe nachmittags Zeit, andere Sachen zu machen als nur im Büro zu sein», sagt Anne. Angst, dass Lily den Schuleinstieg nicht schaffen könnte, gibt es nicht. «Die einzige Befürchtung, die es gab, war die, dass sie sich im System nicht zurechtfindet», erklärt die Mutter. Aber auch da hat sie Vertrauen. «Es war ihre Entscheidung», sagt sie, «und deshalb bin ich mir sicher, sie wird das schaffen.»

Und die Berufsaussichten? René ist mit seinen IT-Kenntnissen schon jetzt umworben, eigentlich muss er nur noch älter werden. Auch bei Lily hat Mutter Anne keine Bedenken. Sie ist von ihren Eltern, beide im Land lebende Franzosen, auf das, was Human Resources Manager gerne als «Soft Skills» abfragen sowie in der Fähigkeit zu kritischem Denken gut vorbereitet worden. «Das Arbeitsleben heute ist so anders als das, auf was ich noch in der Schule vorbereitet wurde», meint Mutter Anne und lässt durchblicken, dass das «System Schule» heute darauf keine echte Antwort hat. Klingt überzeugend.

* Die Namen wurden von der Redaktion geändert.

CESHA
13. Juli 2018 - 13.19

Es kann allerdings besonders sensible Kinder vor Mobbing schützen.
Ich wäre als Kind überglücklich gewesen, wenn ich hätte zuhause lernen dürfen und die Schule nicht tagtäglich für Stress gesorgt hätte.
Wobei dies vor allem in der Grundschule sehr hilfreich gewesen wäre, denn in der Sekundarschule wurde es langsam besser, je erwachsener die Mitschüler wurden.
Insofern hätte ich es vielleicht wie die im Artikel erwähnte Lily gemacht und wäre nach den ersten Schuljahren freiwillig in die Gruppe gegangen.
Und wenn ich heutzutage lese, was in Schulen und auf dem Weg dorthin alles passiert, dann war das Mobbing, dem ich ausgesetzt war, noch "Peanuts" im Vergleich zu dem, was heute in den Schulen vor sich geht.

J.C. KEMP
12. Juli 2018 - 18.22

Wie sollen solche Kinder, die sich nie gegenüber anderen Kindern behaupten musste, sich später im Leben behaupten?

Heimschulung wird besonders gerne von religiösen und sonstigen Spinnern gebraucht, um 'ihre' Kinder vor dem 'Bösen' in der Welt zu schützen. Ein Trend , der in den USA, wie könnte es anders sein, sehr stark ist.