Zwischen 2003 und 2006 erfand und entwickelte die kanadische Band Billy Talent ein ganz eigenes Klangbild, bei dem die einzelnen Zutaten unverkennbar waren – der melodische Schreigesang von Sänger Benjamin Kowalewicz sowie dessen Hymnen-orientierte Melodiebögen sind sehr deutlich im Punk-Hardcore verwurzelt und erinnern streckenweise an Bands wie Antiflag, Jonathan Gallants Basslines verbeugen sich regelmäßig vor dem verzerrten Groove, den Muse-Bassist Chris Wolstenholme vor allem auf „Absolution“ praktizierte, während Gitarrist Ian D’Sa seine Inspiration ganz deutlich aus dem Hardrock der 80er und dem Metal von System of a Down bezieht. Der aus diesen diversen Einflüssen resultierende Sound war jedoch einzigartig genug und die ersten beiden Platten waren bis zum Bersten mit zeitlosen Songs und Ohrwurmmelodien gefüllt, sodass die Kanadier zu Beginn des Jahrtausends zu den spannendsten Hardcore-Indiebands überhaupt gehörten.
Die Leidensgeschichte des Schlagzeugers Aaron Solowoniuk sowie dessen offener Umgang mit seiner MS-Erkrankung – der Drummer wird seit 2016 von Jordan Hastings ersetzt – sorgte zudem für einen zusätzlichen Sympathiebonus. Auch die dritte, immer noch selbstbetitelte Platte, auf der die Band die Klangpalette etwas ausweitete, die Songqualität jedoch der Vielfalt etwas zum Opfer fiel, wusste noch zu überzeugen.
Die drei darauffolgenden Alben – „Dead Silence“ (2012), „Afraid of Heights“ (2016) und das dieses Jahr erschienene „Crisis of Faith“ – pendelten zwischen Neuerfindung und Rückbesinnung auf alte Qualitäten. Auf der neuen Platte, die im Rahmen dieser mehrmals verlegten und nun endlich nachgeholten und am Dienstagabend in der Rockhal gestarteten Tour vorgestellt wird, zeigt sich diese schizophrene Haltung zwischen Weiterentwicklung und Nostalgie relativ gut – hier versucht sich die Band an progressiveren Klängen (siehe „Forgiveness I + II“), gleichzeitig beruft sie sich mit „Reckless Paradise“ und „Hanging Out With All the Wrong People“ recht erfolgreich auf die eigene Vergangenheit.
Dass letztere Songs live mehr zünden als die versuchte Neuschreibung des Bandsounds, ist einerseits nicht dramatisch – immerhin schreibt Billy Talent auch anno 2022 noch treibende Songs –, zeigt aber andererseits auch die stilistischen Grenzen der Band.
Der Liveshow tat dies aber keinen Abbruch: Während des 100-minütigen Sets spielt das Quartett ganze 23 Songs, ohne diese dabei herunterzuleiern oder den Eindruck zu geben, man wolle sich schnellstmöglich durch das Konzert hetzen. Den Kanadiern gelingt ein effizientes, ausgeglichenes und gut strukturiertes Konzert ohne unnötige Pausen und ewiges Geplauder. Den Auftakt macht dabei der unwiderstehliche Opener der zweiten Platte: „Devil in a Midnight Mass“ ist nach wie vor schnell, treibend und melodisch, unter dem an eine morbidere Version der Gorillaz erinnerndes Artwork des neuen Albums erscheinen auf dem Schirm Kirchenfenster, der Sound ist druckvoll, Kowalewicz’ markante Stimme sticht heraus, das Publikum singt dabei so laut, begeistert und schief mit, dass Kowalewicz den Chorus auch mal von der Masse tragen lassen kann.
Teuflisch gut – zumindest zu Beginn
Mit dem anschließenden „The Suffering“ bleibt man bei der zweiten Platte, von der es später auch noch die schöne Ballade „Surrender“ gibt, das melancholische, an System of a Down erinnernde „Pins and Needles“ (dies liegt u.a. auch daran, dass Benjamin Kowalewicz auf den ruhigeren Tracks fast genauso klingt wie System-Gitarrist und Zweitsänger Daron Malakian) sowie „Red Flag“, mit dem das Konzert abgeschlossen wird.
Neben der zweiten wird auch der dritten Platte gehuldigt, von der die Kanadier Auszüge wie „Rusted from the Rain“, „Saint Veronika“, „Diamond on a Landmine“ oder auch „Devil on a Shoulder“ spielen, während man irgendwann nachzählt, wie viele Billy-Talent-Tracks eigentlich nach dem Teufel benannt sind. Aus dem Spätwerk schaffen es vergleichsweise wenig Songs auf die Setlist, nur das neue Album wird ausgiebig vorgestellt, wobei auffällt, dass sich die meisten dieser Songs nahtlos in die Setlist eingliedern. Wiederum gilt: Das sagt viel über die intrinsische Qualität dieser Tracks, aber auch viel über den mangelnden stilistischen Abwechslungsreichtum der Band aus. In der Tat wirkt das Konzert nach einer Stunde etwas redundant – weil die neuen Songs doch weniger zünden und sich die Billy-Talent-Songformel nach einiger Zeit trotz der einwandfreien Performance der vier Musiker erschöpft.
Den doppelten Auftakt davor machten die wegen des üblichen Luxemburger Verkehrschaos leider verpassten Pabst und Frank Turner mitsamt Band – wer den energischen Folk-Punk des Briten kennt, wusste die Wahl eines hochkarätigen Auftakts definitiv zu schätzen, einige waren sogar hauptsächlich wegen des punkigen Singer-Songwriters vor Ort, was sich an einer bereits bei dessen Konzert gut gefüllten Halle zeigte.
Dass sich Turners Folk-Punk über die Jahre treu geblieben ist, zeigt sein kurzes Best-of-Set, das sich aus den verschiedenen Platten seiner Karriere bediente, eindrucksvoll, seine linkspolitischen, antifaschistischen Songs zwischen Lagerfeuerfolk und schnellem, melodischem Punk, die an das Solowerk von Hot Water Musics Chuck Ragan oder Rocky Votolato erinnern, regen zum Nachdenken und Mittanzen an.
„Ich weiß, ihr seid heute Abend allesamt für mich hier“, kommentiert Turner ironisch. „Nichtsdestotrotz habe ich eine Bitte an euch. Nach uns spielt so ne kanadische Band, der wir die Gelegenheit geben wollten, es mal auf einer großen Bühne zu versuchen. Also verlasst die Rockhal bitte nicht sofort nach unserem Auftritt – gebt ihr doch eine Chance.“
Die große Kunst der nichtssagenden Unterhaltung
In puncto Publikumsunterhaltung könnte sich Benjamin Kowalewicz ruhig ein bisschen was von Turner abluchsen: Sympathisch, jedoch ein bisschen plakativ beweist der Billy-Talent-Frontmann, dass er die große Kunst der nichtssagenden Unterhaltung, wie sie bei den US-amerikanischen Nachbarn üblich ist, verinnerlicht hat – wer jeden Abend Tausenden Menschen erzählt, dass er sie mit ganzem Herzen liebt, weiß doch irgendwann nicht mehr, was die leere Worthülse Liebe überhaupt bedeutet. Gleichermaßen nett, aber plakativ ist der obligatorische Diskurs über den Zusammenhalt in diesen „schwierigen Zeiten“ und die „Brüder und Schwestern“ in der Ukraine.
Und auch wenn er immer wieder betont, dass das Quartett heute motivierter denn je ist und „sehr, sehr lange“ spielen wird, ändert dies nichts daran, dass ein 100-minütiges Set für eine Band, die sechs Alben veröffentlicht hat, eigentlich eine normale Konzertlänge darstellen sollte. Die Aussage, man würde an jenem Abend sehr viele Songs, die man zum Teil bereits 15 Jahre nicht mehr gespielt hat, zum Besten geben ist zudem etwas irreführend, spielte die Band von der (grandiosen) ersten Platte doch (unverständlicherweise) nur „Try Honesty“.
Nichtsdestotrotz lohnte sich dieser fast vierstündige Dienstagabend, an dem man erneut feststellte, wie sehr die Menschen wieder Bock auf Livemusik haben – und auf der Heimfahrt verspürte man unweigerlich Lust, die ersten beiden Billy-Talent-Alben wiederzuhören.
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